Fachschule für Heilerziehungpflege der Diakonie Kork Epilepsiezentrum

 

 

 

 

 

Unterrichtsskript für das Fach

 

Epilepsie

 

 

 

 

 

2008 / 2009

 

 

 

 

 

 

 

Verfasser:

Matthias Bacher, Oberarzt

Epilepsiezentrum Kork, Erwachsenenklinik

mbacher@epilepsiezentrum.de

 

 

 


 

 

Häufigkeit

 

5% aller Menschen bekommen im Laufe ihres Lebens einen oder mehrere epileptische Anfälle.

 

10% haben im EEG zu irgendeinem Zeitpunkt ihres Lebens epilepsietypische Potentiale.

 

0.5% aller Menschen leiden an einer Epilepsie (d.h. es gibt in Deutschland mit 80 Mio. Einwohner  400000 Epilepsiekranke).

 

Grob gesagt beginnen Epilepsien entweder vor dem 20. oder nach dem 50. Lebensjahr. Mit zunehmendem Alter steigt das Risiko, neu an einer Epilepsie zu erkranken, dann steil an. Dazwischen ist diese Gefahr gering.

 

 

 

 

Epilepsie / Gelegenheitsanfall

 

Von einer Epilepsie spricht man,

 

§         Wenn wiederholt Anfälle auftreten, ohne dass jeweils innere oder äussere Umstände eingewirkt haben, die nach Art und Schwere für sich allein die Anfälle erklären würden.

§         Nach einem erstmaligen Anfall, wenn dieser nicht durch solche Umstände ausgelöst ist und wenn die Zusammenschau aller Aspekte (einschliesslich Zusatzuntersuchungen wie EEG und MRT) erwarten lässt, dass weitere Anfälle auftreten werden.

 

Wenn ein Anfall vollständig durch einen inneren oder äusseren auf das Hirn einwirkenden Umstand erklärt werden kann, spricht man von einem Gelegenheitsanfall (akute epileptische Reaktion).  Einen solchen kann prinzipiell jeder bekommen.

 

Beispiele:

 

§         Elektrischer Strom (Unfall, Elektrokrampftherapie in der Psychiatrie)

 

§         Manche Medikamente bei einem kleinen Teil der Behandelten (Neuroleptica und manche Antidepressiva in hoher Dosierung, vor allem bei iv-Anwendung;  manche Malariamittel und Antibiotika)

 

§         Plötzlicher Medikamentenentzug nach längere Einnahme vor allem von Benzodiazepinen (Valium und Verwandte)

 

§         Plötzlicher Alkoholentzug bei Alkoholabhängigkeit (dann meist im Rahmen eines Delirs)

 

§         Hirnverletzungen und Hirnblutungen in der Akutphase

 

§         Hitzschlag

 

§         Sauerstoffmangel des gesamten Gehirn, z.B. bei einem Kreislaufkollaps

 

§         Sauerstoffmangel von Teilen des Gehirns (Schlaganfall unter der Form des Hirninfarkts)

 

§         Akute Entzündungen des Gehirns (Meningoencephalitis, Encephalitis)

 

§         Akute Unterzuckerung (Hypoglykämie)

 


 

Kein Gelegenheitsanfall liegt vor, wenn Anfälle ausgelöst werden durch alltägliche oder alltagsnahe Umstände, die normalerweise keine Anfälle auslösen. Man spricht dann von einem provozierten Anfall im Rahmen einer Epilepsie (wie oben definiert).

Beispiele: Schlafmangel, Alkoholkonsum unterhalb der Vergiftungsschwelle, Menstruation, Wetterwechsel, Mondphasen, Emotionen, seelische Konflikte, Stress, Erschrecken, Flackerlicht, Videospiele.

(Bitte beachten!  Diese beiden Begriffe werden von anderen Autoren z.T. auch anders definiert und benutzt).

 

 

Im Zusammenhang mit den Gelegenheitsanfällen abgehandelt werden üblicherweise auch die

 

Fieberkrämpfe   (meiner Meinung nach sollte man sie besser als „gutartige idiopathische Epilepsie mit durch Fieber ausgelösten Anfällen“ bezeichnen)

 

§         Treten bei bis zu 4% aller gesunden Kinder bis zum 5.Lj. auf, dann nicht mehr.

 

§         Hinterlassen keine Folgeschäden.

 

§         Meist in Form eines Grand mal (andere Anfallsformen sind möglich), der u.U. ziemlich lange dauern kann.

 

§         Oft erbliche Belastung mit Fieberkrämpfen.

 

§         Wiederholungsrisiko eines ersten Fieberkrampfes 30 – 40 %, Geschwisterrisiko 10 – 20 %.

 

§         Auslöser: rascher anfänglicher Fieberanstieg bei einer Erkältungskrankheit.

 

§         Wichtige Massnahme beim ersten Fieberkrampf: sofortiger Ausschluss einer Hirnhautentzündung durch Lumbalpunktion.

 

§         Behandlung: Fieber senken mit Medikamenten (Paracetamol) und Wadenwickeln. Diazepam rektal (5mg bis 15 kg, 10 mg über 15kg Körpergewicht)

 

§         Vorbeugung: frühzeitiges Fiebersenken, evtl. bei bekannter Fieberkrampfneigung bei fieberhaften Infekten für einige Tage Diazepam als Tropfen oder Zäpfchen.

 

§         Keine Notwendigkeit einer antiepileptischen Dauerbehandlung.

 

§         Eine Verwechslungsmöglichkeit besteht darin, dass auch bei Epilepsien im eigentlichen Sinne der erste Anfall im Kindesalter nicht selten durch Fieber provoziert wird. Der Verlauf bringt die Klärung: Es treten dann mehr oder weniger bald auch nicht durch Fieber ausgelöste grosse Anfälle und andere Anfallsarten auf.

 




 

 

Anfallsformen

 

 

(Die derzeit gültige Einteilung der Anfälle und die derzeitigen Anfallsbezeichnungen sind sicher nicht das letzte Wort zu diesem Thema. Sie werden mit ihrem strengen „Schubladendenken“ der realen Vielfalt der Anfallsformen mit den vielen Übergangsformen sowie der Dynamik innerhalb eines Anfalls nur schlecht gerecht. Neue Einteilungen sind in der Diskussion, derzeit gilt aber noch das folgende.)

 

Einfach-fokale ( -partielle) Anfälle

Die epileptische Aktivität spielt sich nur in einem Teil des Gehirns ab, evtl mit Ausbreitung in benachbarte Bereiche. Die eigentliche Funktion des betroffenen Hirnteils wird beeinträchtigt oder fällt aus. Die epileptische Aktivität führt zu unwillkürlicher und unnormaler Aktivität des Körperteils, der von dem betroffenen Bereich gesteuert wird, zu verzerrter Wahrnehmung, zu Trugwahrnehmungen (Halluzinationen) oder zu anderen Funktionsstörungen.

Das Bewusstsein ist nicht beeinträchtigt, der Anfall wird voll miterlebt.

 

Motorische Anfälle (äussern sich in Bewegungsphänomenen)

*Klonisch an einer Stelle (i.a. klonisch, oft gefolgt von einer Todd’schen Lähmung, s.u.)

*Klonisch mit Ausbreitung (march, Jackson-Anfall)

*Versivanfall (tonische Drehbewegung von Augen, Kopf, Rumpf)

*Haltungsanfall (asymmetrische tonische Haltung des Körpers, oft in Verbindung mit Versivbewegungen)

*Negativ-motorisch (Bewegungsunfähigkeit, Lähmung, Erstarren des Bewegungsablaufes)

*Myoklonien (s.u.)

 

Todd’sche Lähmung: nach einem fokalen Anfall für einige Zeit (i.a. im Minutenbereich) anhaltende Lähmung im betroffenen Bereich, geht von allein weg.

Kloni / Myoklonien (Versuch einer begrifflichen Abgrenzung) Kloni sind mehr oder weniger rhythmisch wiederholte Zuckungen, Myoklonien in unregelmässiger Folge auftretende Zuckungen.

Epilepsie partialis continua (Kojewnikow-Anfall): sehr bis extrem lang (Tage, Wochen….) dauernder einfach-fokal-motorisch-klonischer Anfall.

 

 

Sensorische Anfälle (äussern sich in Sinnesempfindungen; diese könne so seltsam sein, dass sie sich nicht beschreiben lassen, das führt zu manchmal bizarr klingenden Schilderungen)

*Sinnesempfindungen aus der Haut, dem Unterhautgewebe und der Muskulatur (somatosensorisch, sensibel): Kribbeln, Ziehen, Ameisenlaufen, Spannen, Elektrisieren, Schweregefühl, Bläh- oder Schrumpfgefühl.......

*Optische Sinneseindrücke: meist bunte Formen, Blitze......, selten bis hin zu regelrechten, real erscheinenden Figuren und Szenen (anders als die Sehstörungen bei Migräne: diese sind schwarz-weiss und in Form von Zackenmustern)

*Akustische Sinneseindrücke: meist in Form von Tönen und Geräuschen, selten Musik, Worte.

*Geruchswahrnehmungen, meist unangenehme.

*Geschmacksempfindungen

*Empfindung von Schwindel oder Bewegung im Raum

*Negativ-sensorisch: Verzerrung, Abschwächung oder Ausfall einer Sinneswahrnehmung, z.B. verzerrtes oder leiseres Hören, Ausfälle im Gesichtsfeld...

 

 

Anfallsymptome aus dem vegetativen Bereich (Empfindungen und Erscheinungen aus dem Bereich des vegetativen Nervensystems) 

 

Als Aura (s.u.) mit Entwicklung zum komplex-fokalen Anfall oder als isoliert bleibende Aura kommen vor:

*Unangenehme, oft aufsteigende Gefühle im Oberbauch (epigastrische Aura)

*Angstgefühle in Verbindung mit den vegetativen Zeichen der Angst (Herzklopfen…)

 

Kaum jemals als eigenständige Anfallsform, aber sehr häufig als zusätzliches Symptom im Rahmen anderer Anfälle (andere Auren, komplex-fokale Anfällen, Grand mal …) kommen vor:

*Harn- oder Stuhldrang

*Einnässen oder Einkoten

*Beschleunigung des Herzrhythmus und Herzklopfen

*Verlangsamung des Herzrhythmus bis zum vorübergehenden Herzstillstand

*Gesichtsröte oder Blässe

*Schwitzen

*Gänsehaut, Frösteln

*Pupillenerweiterung

*Speichelfluss

 

 

 

Anfälle mit psychischer Symptomatik

*Traumartiges Erleben der Umwelt

*Erinnerungstäuschungen, Gefühl ungewöhnlicher Vertrautheit (déjà-vu) oder Fremdheit (jamais-vu)

*Veränderung des Zeiterlebens

*Zwangsgedanken

*Denkunfähigkeit

*Ungewöhnliche gefühlsmässige Tönung der Umwelt (angenehm-belustigend oder auch ganz im Gegenteil)

*Gefühl erhöhter Bewusstseinshelligkeit, „Offenbarungsempfindungen“, mystisch, transzendente Empfindungen (ausserordentlich selten)

 

Diese sind oft mit vegetativen Symptomen kombiniert, s.o.

 

 

Die einfach-fokalen Anfälle können eigenständig vorkommen oder sich zu einem komplex-fokalen Anfall oder einem Grand mal weiterentwickeln (Generalisation).

 

Der Begriff der Aura wird ziemlich variabel verwendet. Am ehesten gilt noch:

Auren (Einzahl: Aura) sind sensorische, vegetative und psychische einfach-fokale Anfälle, d.h. eine Aura ist ein einfach-fokaler Anfall, dessen Symptome erlebt werden, aber für Aussenstehende nicht sichtbar sind, egal ob es bei der Aura bleibt oder ob sich diese zu einem ausgeprägteren Anfall weiterentwickelt. (Es gibt auch andere Definitionen.)

 

Die ganz überwiegende Mehrzahl der einfach-fokalen Anfälle wird von den Patienten als unangenehm und beängstigend wahrgenommen. Positives Anfallserleben (vor allem von psychischen oder sensorischen Auren) kommt selten vor und kann in seltenen Einzelfällen ein Hindernis für die Therapie darstellen.

 

 

 !!!  Was tun bei einfach-fokalen Anfällen? 

Abwarten, die Zeitdauer des Anfalls registrieren, den Betroffenen schützen oder abschirmen, falls erforderlich. Überrreaktionen der Umgebung (Krankenwagen, Notarzt) verhindern, falls in der Öffentlichkeit. In Einzelfällen (bekannte Weiterentwicklung der fokalen Anfälle zu generalisierten Anfällen oder Gefahr des Status fokaler Anfälle) die vorher festgelegte Notverordnung geben.

     

 

Generalisierte Anfälle

Die epileptische Aktivität spielt sich gleichzeitig beidseits im ganzen Hirn oder beidseits in ausgedehnten Hirnbereichen ab. Das Bewusstsein ist im Allgemeinen aufgehoben.

 

Absencen 

Bei einer Absence wird das Erscheinungsbild ausschliesslich oder weitgehend durch die Bewusstseinsstörung bestimmt.

*Einfache (blande) Absencen bestehen ausschliesslich aus einer Bewusstseinsstörung: diese beginnt und endet plötzlich ohne Vorwarnung, dauert 5-10 Sekunden, unterbricht das Erleben, die Erinnerung und das Handeln, geht mit einem starren, leeren Blick einher, der Pat. bleibt in aufrechter Haltung und erlebt die Absence als solche nicht mit. Vielleicht bemerkt er anschliessend, dass er eine kurze Erinnerungslücke hat.

*Bei komplexen Absencen treten leichte Begleiterscheinungen hinzu: Verdrehen der Augen, automatische Bewegungen, milde Tonuserhöhungen oder leichte atonische Phänomene wie Vor- oder Zurückneigen des Kopfes, milde Kloni vor allem um die Augen (Blinzelabsencen), vegetative Erscheinungen (Pulsbeschleunigung, Änderung der Gesichtsfarbe...).

 

(Der Begriff der sog. atypischen Absencen ist nicht sehr scharf definiert. Man versteht darunter Absence-artige Anfälle, die unscharf beginnen und enden und / oder länger dauern und / oder ausgeprägtere Begleiterscheinungen aufweisen. Dies ist keine eigenständiger Anfallstyp, sondern umfasst milde oder uncharakteristisch ausgeprägte Anfälle verschiedener Art, z.B. komplex-fokale oder tonische Anfälle oder kurze dichte Serien myoklonischer oder atonischer Anfälle.)

 

Myoklonische Anfälle

Plötzliche  symmetrische Muskelzuckung meist in Oberkörper und Armen. Kann in der leichtesten Ausprägung nur die Augenlider betreffen (Blinzler) oder nur den Kopf (Nicker). Bei stärkerer Ausprägung meist Vorwärtsbewegung der Arme und Beugung im Oberkörper, Sturzgefahr bei Beteiligung von Hüften und Beinen. Ob eine Bewusstseinsstörung dabei ist, lässt sich wegen der Kürze des Anfalls oft nicht klären.

 

Atonische Anfälle

Plötzlicher Verlust des Muskeltonus in einem mehr oder weniger ausgedehnten Teil des Körpers. Verschiedene Ausprägungsgrade möglich (Blinzler, Nicker, Zusammensacken im Oberkörper, Einknicken der Beine, Sturz). Können sehr kurz sein, aber bei manchen Patienten auch recht lange dauern und dann sehr bedrohlich wirken (die Zwerchfellatmung geht dabei aber weiter).

 

Myoklonisch-astatische Anfälle

Kombination aus einem myoklonischen Anfall und einem sich unmittelbar daran anschliessenden atonischen Anfall. Kann als Blinzler oder Nicker ausgeprägt sein oder mehr oder weniger den ganzen Körper betreffen und führt dann zu einem Sturz.

 

Tonische Anfälle

Rasch bis blitzartig einschiessende, dann aber ein gewisse Zeit anhaltende beidseitige symmetrische Verkrampfung, Dauer Sekunden bis unter eine Minute. Bewusstsein dabei aufgehoben oder wenigstens eingeschränkt. Ohnmächtiges Miterleben des Anfalls kann vorkommen.

Typisches Haltungsmuster: Augen offen und nach oben verdreht, Kopf gebeugt, Arme angehoben, Rumpf gebeugt. In ihrer geringsten Ausprägung sieht man nur ein Verdrehen der Augen nach oben oder ein leichtes Verziehen des Gesichts. Treten gerne aus dem Schlaf heraus auf, oft massenhaft. Führen in stärkerer Ausprägung zu heftigen Stürzen ohne Abfangreaktion und ohne Nachgeben des brettsteifen Körpers: Hohe Verletzungsgefahr.

 

!!! Was tun bei diesen kleinen generalisierten Anfällen?

Beim Anfall selbst den Patienten sichern, falls möglich und erforderlich. Notverordnung im Anfall weder möglich noch sinnvoll, da Anfall im allgemeinen sehr kurz.

 

Tonisch-klonische Anfälle (Grand mal)

Der klassische epileptische Anfall.

Typischer Ablauf:

Beginn mit Bewusstseinsverlust, Verkrampfung am ganzen Körper und Sturz (relativ selten mit ernsten Verletzungen), evtl. begleitet vom sog. „Initialschrei“ (unschöne rein mechanische Lauterzeugung durch Auspressen der Luft aus den Lungen durch den verkrampften Kehlkopf hindurch). Während dieser Phase kann der Körper je nach Patient verschiedene, auch asymmetrische Haltungen einnehmen oder von einer verkrampften Haltung in eine andere übergehen. Die Tonuserhöhung ist von einem mehr oder weniger groben Zittern überlagert. Augen offen und verdreht. Keine Atmung wegen der Verkrampfung der Atemmuskeln.

Die Tonuserhöhung wird dann zunehmend abgelöst von allmählich gröber werdenden beidseitigen rhythmischen und symmetrischen Kloni, die schliesslich abbrechen. In dieser Phase kann Speichel, evtl. schaumig oder blutig, austreten.

Diese beiden Phasen zusammen dauern im Durchschnitt 70 Sekunden (sehr kurze Abläufe und Anfälle bis 3 Minuten Dauer kommen vor).

Die Gesichtsfarbe wird während des Grand mal blass oder rot und mehr oder weniger bläulich bis dunkelblau (Zyanose: mehr durch den Blutstau im Gesicht als durch allgemeinen Sauerstoffmangel !). Ein Zungenbiss (seitlich) oder ein Wangenbiss kann auftreten.

Danach eine einige Minuten anhaltende Phase einer völligen Erschlaffung und tiefen Bewusstlosigkeit ohne Reaktion auf Reize, evtl. jetzt das Einnässen. Sehr tiefe, geräuschvolle, evtl. gurgelnde Atmung (an der man einen abgelaufenen Grand mal absolut sicher erkenne kann, auch wenn man ihn nicht gesehen hat), in der der durch den vorangegangenen Anfall entstandene Sauerstoffmangel ausgeglichen wird. In dieser Phase Gefahr der Aspiration von Speichel mit dem Risiko einer nachfolgenden Pneumonie.

Dann je nach Patient verschiedene Verläufe möglich: Übergang in mehr oder weniger langen Schlaf oder Desorientiertheit und agitiertes unbeeinflussbares, evtl. gewalttätiges  Verhalten oder manchmal auch verblüffend rasche vollständige Erholung.

Wenn ein Grand  mal nur mild oder abgekürzt oder unvollständig abläuft, spricht man von einem Abortiv-Grand mal (es gibt dafür keine allgemeingültige präzisere Definition).

 

Welche Gefahren beinhaltet ein Grand mal?

*Verletzungen durch den Sturz.

*Ertrinken, falls Auftreten im Wasser (Schwimmbad, Badewanne !!!......)

*Ersticken im Bett bei Anfall oder in der Nachphase in Bauchlage und bei weichem Kissen

*Aspiration mit nachfolgender Aspirationspneumonie.

*Ersticken durch Aspiration, wenn Anfall beim Essen auftritt

*SUDEP (= sudden unexplained death in epilepsy.) Insgesamt selten, aber leider möglich: Tod durch Herzstillstand im Anfall. Häufigkeit: 1 pro 10000 Erkrankungsjahre, bei Kindern 10-mal seltener, Hauptrisikogruppe: therapieresistente Epilepsien bei Erwachsenen, bei diesen für 20 – 50% aller Todesfälle verantwortlich.

*Ansonsten ist ein einzelner Grand mal für Körper und Gehirn zwar eine grosse Anstrengung, aber nicht gefährlich. Insbesondere kommt es bei einem Grand mal von normaler Dauer nicht zu einer Schädigung des Gehirns. Der Sauerstoffmangel in ist nicht so ausgeprägt, dass er zum Absterben von Gehirnzellen führt.

Wieviele Grande mal – Anfälle ein Gehirn im Laufe des Lebens ohne Schaden verträgt, lässt sich schwer sagen. Als grober Anhaltspunkt können folgende Zahlen dienen: Messbare Einschränkungen der geistigen Fähigkeiten treten auf nach einer Epilepsiedauer von mehr als 30 Jahren, nach mehr als 100 Grand mal -Anfällen über die Jahre, oder nach einem oder mehreren Grand mal -Staten.

 

!!!  Was tun beim Grand mal?

Ruhe bewahren. Unangemessene Reaktionen der Umgebung verhindern (Krankenwagen, Notarzt). Die Zeitdauer des Anfalls registrieren. Den Patienten sichern (Kleidung am Hals lockern, aus eventueller Gefahrenzone ziehen, etwas Weiches unter den Kopf legen). Nichts zwischen die Zähne schieben! Keine Wiederbelebungsmassnahmen! Sobald die Krampfphase vorbei ist: Seitenlage!

Krankenwagen / Notarzt gerechtfertigt bei unbekannten Personen oder bei erstmals aufgetretenem Anfall oder bei bekannter Statusgefahr. Bei Person mit bekannter Epilepsie: Evtl. vorher festgelegte Notverordnung geben (eigentlich nur sinnvoll bei bekannter Serien- oder Statusgefahr).

Auf Verletzungen untersuchen!

 

 

 

Komplex-fokale Anfälle

Diese nehmen eine Art Zwischenstellung ein zwischen den fokalen und generalisierten Anfällen. Sie beginnen fokal, breiten sich jedoch soweit im Gehirn aus, dass das Bewusstsein beeinträchtigt wird.

Der Patient ist im Anfall aber nicht bewusstlos wie im Koma. Er wirkt wach, bekommt im Allgemeinen jedoch von sich und seiner Umgebung nichts mehr mit (oder hat in seltenen Fällen nur noch ein sehr eingeschränktes, schattenhaftes Erleben), hat einen leeren, verständnislosen Blick, regiert nicht oder unpassend und erinnert sich an die im Anfall verbrachte Zeit nachher nicht oder bestenfalls bruchstückhaft  (Dämmerzustand).

 

Es gibt 2 Haupttypen, wobei die Anfallsgestalt je nach dem Weg und dem Ausmass der Anfallsausbreitung im Gehirn von Patient zu Patient sehr vielgestaltig sein kann. Die Anfälle eines einzelnen Patienten sind aber meist ziemlich identisch, wobei bei einer Person auch verschiedene Anfallsgestalten vorkommen können.

 

 

Schläfenlappenanfälle / Temporallappenanfälle / alte Bezeichnung: “psychomotorische Anfälle“

Typische Elemente sind:

*(Oft epigastrische, Angst- oder déjà-vu-) Aura

*Starrer Blick, Bewegungsverharren

*Automatismen: Mundbewegungen = oroalimentäre Automatismen; Handbewegungen wie Nesteln, Zupfen; umfangreichere sinnlose Handlungen wie Ausziehen; desorientiertes, aber oft sehr stures Umhergehen, Zerren, Streichen und Schieben von Gegenständen

*Automatische nicht situationsbezogene Sprachäusserungen oder unverständliche Lautäusserungen

*Keine oder ungerichtet-diffuse Reaktion auf Ansprache, kein Befolgen von Aufforderungen, evtl. automatische handgreifliche bis aggressive Reaktionen möglich beim Versuch der Beeinflussung des Anfallsverhaltens.

*Vegetative Erscheinungen, vor allem Speichelfluss, Blässe oder Gesichtsröte, weite Pupillen, die nicht auf Licht reagieren, Einnässen, Änderungen des Herzrhythmus, meist Bechleunigung.

*Einseitige verkrampfte Armhaltung.

*Im Anfallsablauf, vor allem zu Beginn, kann durch vorübergehende allgemeine Tonuserhöhung oder Tonusverlust auch ein Sturz auftreten.

*Das Ende des Anfalls ist unscharf, der Patient kehrt allmählich wieder ins normale Bewusstsein zurück und hat dann im Allgemeinen bestenfalls eine Erinnerung für die Aura.

*Dauer: im Minutenbereich, sehr kurze (sekundenlange) und sehr lange Anfälle (30 Minuten) können vorkommen.

 

 

Stirnlappenanfälle / Frontallappenanfälle

Dies ist eine vielgestaltige Gruppe. Die Anfälle setzen sich zusammen aus einer mehr oder weniger ausgeprägten Bewusstseinsbeeinträchtigung und aus je nach Anfallstyp verschiedenen automatischen Bewegungen: tonische Haltungen, Ganzkörperbewegungen (Wälzen, Schaukeln…), grobe Arm- und Beinbewegungen (Radfahren…), wilde Bewegungstürme, Lautäusserungen. Sie dauern im Allgemeinen nur kurz.

 

Besonders charakteristisch ist der hypermotorische Anfall:

*Häufig aus dem Schlaf heraus auftretend.

*Evtl. eine schwer bestimmbare kurze Aura.

*Heftige Bewegungen von Rumpf und Extremitäten (Schaukeln, sich Herumwerfen, Grimassieren, Gestikulieren, Herumlaufen, heftiges Schlagen mit Armen und Beinen, Beissen, erhebliches Verletzungs- und Zerstörungspotential).
*Lautäusserungen, oft sehr laut und wild.

*Automatisches emotionales Ausdrucksverhalten, vor allem Angst und Wut..

*Dauer: meist sehr kurz bis kurz (unter einer Minute), schlagartiges Ende.

*Kurze Anfälle werden vom Patienten manchmal machtlos miterlebt.

*Manche fallen dabei aus dem Bett und schlafen deswegen lieber auf einer Matratze auf dem Boden (auch bei uns im Krankenhaus!) mit viel Platz drumherum.

 

Tonisch-komplex-fokale (-psychomotorische) Anfälle

Diese sind eine Kombination aus einem tonischen Anfall, der unmittelbar in einen psychomotorischen Anfall übergeht. Diese Anfälle sind sehr charakteristisch für aus der Kindheit stammende, auf frühkindlich entstandenen Hirnschäden beruhende, therapieresistente, mit geistiger oder anderer Behinderung gekoppelte Epilepsien und deshalb in Behidnerteneinrichtungen sehr häufig. In anderen Zusammenhängen (Epilepsiesprechstunde oder Epilepsiestation mit überwiegend „fitten“ Patienten) spielen sie kaum eine Rolle.

 

!!!   Was tun bei komplex-fokalen Anfällen?

Den Patienten sichern, Überreaktionen der Umgebung (Krankenwagen, Notarzt, Zwangseinweisung in Psychiatrie, Verhaftung durch Polizei, Fehldeutung als Betrunkener oder Verrückter….) verhindern. Eventuell die vorher festgelegte Notverordnung geben. Wegen des unscharfen Endes psychomotorischer Anfälle den Patienten auch nach dem scheinbaren Anfallsende noch länger beaufsichtigen.

 

Einige weitere gebräuchliche Begriffe:

 

Primär generalisierte / sekundär generalisierte Anfälle

*„Primär generalisierte Anfälle“ beginnen nach dem sichtbaren Anfallsablauf und nach dem EEG überall im Hirn praktisch gleichzeitig, man kann keinen fokalen Anfallsursprung feststellen, von dem aus sich die Anfallsaktivität ausbreitet. Wahrscheinlich ist die Bezeichnung strenggenommen falsch, man geht heute davon aus, dass auch diese  Anfälle einen fokalen Ursprung oder mehrere / viele fokale Ursprünge haben, sich die epileptische Erregung aber infolge einer besonderen erblichen Veranlagung (idiopathische generalisierte Epilepsien) oder einer  hirnreifungs- oder schädigungsbedingten Schwäche der Hemmmechanismen (generalisierte Epilepsien im Kindesalter) in Sekundenbruchteilen auf das übrige Gehirn ausbreitet.

Beispiele: typische und komplexe Absencen, Aufwach-Grand mal, myoklonisch-impulsive Anfälle bei der JME (s.u.), viele myoklonische und myoklonisch – astatische Anfälle.

* „Sekundär generalisierte Anfälle“ breiten sich dem sichtbaren Anfallsablauf und / oder dem EEG nach von einem oder mehreren Herden im Gehirn mehr oder weniger rasch aus.

Beispiele für sich sehr rasch ausbreitende Anfälle: tonische Anfälle, atypische Absencen.

Beispiele für sich langsamer ausbreitende Anfälle: Aura, übergehend in komplex-fokalen Anfall; komplex-fokaler Anfall, der in einen Grand mal übergeht.

 

Grosse / kleine Anfälle

Grosse Anfälle ist ein anderes Wort für Grand mal – Anfälle. Kleine Anfälle sind alles Übrige.

 

Sturzanfälle

Der Begriff besagt nur, dass man im Anfall stürzt. Dabei gibt es 3 Mechanismen:

*Tonische Sturzanfälle: Der Körper wird von der tonischen Verkrampfung umgerissen oder verliert wegen ihr das Gleichgewicht und stürzt steif und ohne reflektorische Abstürzbewegungen nach vorne oder hinten. Der tonische Sturzanfall hat von allen Anfallsarten die höchste Verletzungsgefahr.

*Atonische Sturzanfälle: Der Körper sackt wegen des Tonusverlustes der Muskulatur senkrecht nach unten zusammen.

*Myoklonische Sturzanfälle: Der Körper wird von einer heftigen Myoklonie im Oberkörper nach vorne umgerissen oder verliert infolge einer Myoklonie der Beine oder der Hüftmuskeln den Stand.

Durch ihr gewöhnlich häufiges Auftreten und den damit verbundenen oft sehr heftigen Sturz sind diese „kleinen Anfälle“ für den Patient oft um ein Vielfaches schlimmer als die viel seltener auftretenden „grossen Anfälle“. Es gibt in Kork nicht wenige Heimbewohner, die allein wegen der Sturzgefahr durch tonische Anfälle dauernd im Rollstuhl sitzen.

Je nach individuellem Sturzmechanismus ist die Verletzungsgefahr von Patient zu Patient verschieden. Wer im tonischen Anfall ungeschützt nach vorne knallt, verletzt sich bei jedem Anfall im Gesicht. Wer in einer gebeugten Haltung mehr zur Seite hin über die Schulter fällt, verletzt sich kaum.

 

Blinzler, Nicker

Besagt lediglich, dass der Anfall aus einer Nickbewegung oder einem Blinzeln besteht. Bezüglich der Mechanismen gilt das soeben Gesagte.

 

Anfallsstatus / Anfallsserie

Allgemeine Definition: Die einzelnen Anfälle dauern sehr lange oder gehen ineinander über oder es liegen nur sehr kurze Zeitabstände zwischen den einzelnen Anfällen. Der Begriff muss für verschiedene Anfallsformen verschieden definiert werden.

 

*Grand mal-Status:  

Ab einer Anfallsdauer von mehr als 5 Minuten oder ab dem 2. Anfall in Folge, ohne dass der Patient dazwischen wieder bei sich war.

An Gefährlichkeit mit zunehmender Zeitdauer rasch zunehmender lebensbedrohender Notfall durch Überlastung und Versagen von Herz und Kreislauf, Ansteigen der Körpertemperatur, Sauerstoffmangel, substanzielle Schädigung der Nervenzellen des Gehirns durch Sauerstoffmangel, Überreizung („exzitotoxische Schädigung“) und durch Übersättigung mit Stoffwechselabfallprodukten, Hirnschwellung.  30 Minuten Dauer gelten als die Grenze, ab der mit Sicherheit mit Hirnschäden durch den Status gerechnet werden muss (was nicht heisst, dass kürzere Staten mit Sicherheit harmlos sind). 10 – 20% aller Grand – mal - Staten gehen tödlich aus, bei einer Statusdauer von über 3 Stunden etwa 50%.

Bei einer Epilepsie kommt ein Grand mal-Status vor allem vor bei Weglassen der Medikamente. Mehr als die Hälfte aller Grand mal – Staten sind vom Entstehungsmechanismus her Gelegenheitsanfälle bei Menschen ohne Epilepsie, z.B. bei Hirnentzündungen, Hirnverletzungen, Tumoren, Alkoholentzug….).

 

!!! Was tun?

Bereits im beginnenden Status oder bei Verdacht auf Weiterentwicklung eines Grand mal zum Status: Unverzüglich Arzt rufen! Die Behandlung muss so rasch wie möglich beginnen!

 

 

Die folgenden Statusformen sind nicht so gefährlich und erlauben ein gelasseneres Reagieren. Man spricht bei diesen von einem Status bei einer Dauer von mehr als 30 Minuten.

 

*Absencenstatus: die Absencen folgen so dicht aufeinander, dass ein kontinuierliches Erleben, Denken und Handeln nicht mehr möglich ist. Die Patienten wirken umdämmert, haben Speichelfluss, sind antriebslos, verlangsamt, teilnahmslos, reagieren immer wieder kurz und unzusammenhängend auf Ansprache, können sich nicht mehr zusammenhängend äussern. Bei genauem Hinschauen kann man oft sehen, wie die Pupillen immer wieder (während der einzelnen Absencen) vorübergehend weit werden.

 

*Status fokaler Anfälle: Ein Status fokaler, klonischer motorischer Anfälle kann enorm lange dauern (Stunden bis Monate oder Jahre): Kozevnikow-Status oder Epilepsia partialis continua.

 

 

 

*Status psychomotorischer Anfälle.

 

!!! Was tun bei diesen Staten / Serien?

Bei erstmaligem Auftreten Arzt rufen. Wenn bei dem Patienten bekannt: vorher festgelegte Notverordnung geben, den Patienten sichern, Überrektionen der Umgebung (Krankenwagen, Notarzt, Zwangseinweisung in Psychiatrie, Verhaftung durch Polizei….) verhindern.

 

 

*Status / Serie tonischer Anfälle: in Kork nicht selten.

!!!  Was tun?

Die vorher eventuell festgelegte Notverordnung geben. Achtung: Serien tonischer Anfälle sprechen schlecht und wenn überhaupt dann sehr verzögert auf Notverordnung an, können sehr lange (Dutzende von Anfällen) dauern, klingen praktisch immer von allein wieder ab und entwickeln sich so gut wie nie zu einem Grand mal.  Also: Nicht die Nerven verlieren, Abwarten ist meist das Gescheiteste.

 

 

Wichtig zu wissen:  Das Gehirn ist einem epileptischen Anfall nicht schutzlos ausgesetzt. Es ist keineswegs so, dass der Anfall solange läuft, bis die Reserven des Hirns sozusagen ausgebrannt sind, etwa wie bei einer Wunderkerze (Ausnahme: Grand mal-Status).

Das Gehirn verfügt über ausserordentlich wirksame Hemm-Mechanismen gegen epileptische Erregung. Diese sorgen dafür, dass bei Epilepsien trotz Bestehens von epileptischen Herden, die unablässig epileptische Erregung produzieren, sich diese im allgemeinen nicht aus dem Herd hinaus ausbreiten kann, es also nicht zu einem Anfall kommt.

Im Falle eines Anfalls sind diese Hemm-Mechanismen vorübergehend geschwächt oder sie werden von einer besonders starken epileptischen Erregung überrannt und brauchen eine gewisse Zeit, um ihre Abwehrfunktion wieder auf die Beine zu stellen. Dann aber beenden sie den Anfall aktiv (in etwa so wie ein Computer herunter- und wieder hochgefahren wird). Die Bewusstlosigkeit nach einem gm, die Todd-Parese oder die EEG-Verlangsamung nach einem Anfall sind  nicht Zeichen einer Erschöpfung oder Schädigung des Gehirns, sondern des vorübergehenden Überwiegens der Hemm-Mechanismen.

 

 

 

 

 

 


 

 

 

 

Psychogene Anfälle

 

Andere Bezeichnungen:  nichtepileptische Anfälle,   non-epileptic seizures,   NES.  Der Begriff „pseudoepileptischer Anfall“ gilt derzeit als politisch inkorrekt.

Der Begriff umfasst anfallsartige Erscheinungen, die mehr oder weniger epileptischen Anfällen ähneln, denen aber im Gehirn keine epileptischen Vorgänge zugrunde liegen und deren Ursache in psychischen Prozessen liegt.

 

 

Hauptsächliche Formen (ohne Anspruch auf Vollständigkeit)

 

  • Keine Reaktion auf Ansprache, ohne weitere Symptome.

 

  • Sturz oder Zusammensinken und dann ohnmachtsartiges reaktionsloses Daliegen.

 

  • Verkrampfte Haltungen jeder Form, dabei auch der klassische Arc de cercle möglich.

 

  • Zittern, Umsichschlagen, Schütteln, Zuckungen, sich Festkrallen.

 

  • Luftanhalten, Aussetzen der Atmung bis zur Zyanose

 

  • Desorientiertes Verhalten

 

 

Wie erkennt man einen psychogenen Anfall als psychogen?

 

Das härteste Kriterium ist, dass während des Anfalls das EEG keine epileptische Aktivität zeigt. Wirklich notwendig ist das Anfalls-EEG bei psychogenen Anfällen für erfahrene Beobachter aber oft nicht. Ausserdem gibt es auch epileptische Anfälle, bei denen man im EEG nichts sieht.

 

Viel wichtiger sind die Anfallsgestalt insgesamt und in ihren Einzelheiten und oft auch der situative Zusammenhang.

Keines der folgenden Kriterien ist für sich allein 100%ig sicher, entscheidend ist das Gesamtbild, die Urteilssicherheit wächst mit der Erfahrung.

 

Für einen psychogenen Anfall sprechen:

 

  • Eine Anfallsform und ein Ablauf, die bei epileptischen Anfällen sehr ungewöhnlich wären oder die es bei Epilepsien einfach so nicht gibt.

 

  • Lange Anfallsdauer

 

  • Geschlossene oder zugekniffene Augen, Wegdrehen der Augen bei der Pupillenprüfung

 

  • Für epileptische Anfälle ungewöhnliche Haltungsmuster oder Bewegungen

 

  • Im Anfallsablauf stark wechselnde Symptome, die der üblichen Abfolge epileptischer Symptome nicht entspricht.

 

  • Grosse Unterschiede im Ablauf zwischen den einzelnen Anfällen.

 

  • Ein völlig anderes Anfallsbild als die bei dem Patienten bekannten epileptischen Anfälle.

 

  • Schüttelbewegungen (diese bezüglich Stärke und Ort des Auftretens am Körper meist wechselnd)

 

  • Sturz mit erkennbarem Abfangen ohne Verletzung (es kann aber auch in psychogenen Anfällen zu Verletzungen kommen !!)

 

  • Auftreten der Anfälle in bestimmten Situationen (z.B. wenn die Krankenschwester das Zimmer betritt oder immer in der Stationsgruppe), Nichtauftreten, wenn der Patient allein ist.

 

  • Beeinflussbarkeit des Anfallsablaufs durch Anfassen, durch Ansprechen, Nichtbeachten….

 

  • In der Vorgeschichte hochdramatische Umstände mit Notarzt, Hubschrauber, Intensivstation, Narkose, Beatmung…. Nichtansprechen des Anfalls auf die übliche notfallmedizinische Behandlung.

 

 

Ein psychogener Anfall kann lebensgefährlich sein !    Dies nicht durch den Anfallsablauf oder die Anfallsdauer, sondern dadurch, dass man versucht, ihn wie einen epileptischen Anfall oder Status zu behandeln. Da psychogene Anfälle auf die übliche medikamentöse Behandlung nicht ansprechen und wenn der Anfall nicht als psychogen erkannt wird, kommt es leicht zu einer Eskalation der medizinischen Massnahmen mit hohem Gefährdungspotential.

 

 

Sind psychogene Anfälle unbewusst oder gespielt?

Die Problematik des psychogenen Anfalls lässt sich nicht auf diese Alternative vereinfachen. Man muss dies sehr differenziert betrachten.

 

Ein psychogener Anfall hat eine Reihe verschiedener Aspekte / Dimensionen:

 

Der Grad der Bewusstheit und Beeinflusbarkeit jedes einzelnen dieser Aspekte kann  auf  einem Kontinuum zwischen den beiden Extrempunkten völliger Bewusstheit/Beeinflussbarkeit und völliger Unbewusstheit/ Unbeeinflussbarkeit liegen, analog z.B. den Schiebereglern eines Mischpultes zwischen Minimum und Maximum.

Diese einzelnen „Schiebregler des Bewusstheitsgrades“ sind zum Teil und in gewissen Grenzen voneinander unabhängig einstellbar.

 

*  Die Erinnerung an den Anfall: 

Völlig klares Erinnern des gesamten Anfalls  - - -   (mehr oder weniger lückenhaftes oder unscharfes Erinnern des Anfalls)  - - -   Völlige Amnesie des Anfalls.

 

* Das Miterleben des Anfalls

Völlig bewusstes Miterleben des Anfallsablaufes  - - -  (mehr oder weniger lückenhaftes oder unscharfes Miterleben des Anfallsablaufes)  - - -  Keinerlei bewusstes Miterleben des Anfallsablaufes.

 

* Die Wahl und Ausgestaltung der Anfallsemiologie

Bewusste Wahl einer bestimmten Anfallsform und eines bestimmten Anfallsablauf  - - - - -   An der Wahl und Ausgestaltung des Anfallsablaufs sind bewusste Prozesse komplett unbeteiligt.

 

* Das Motiv für die Wahl der Anfallsemiologie

Die Gründe für die Wahl einer bestimmten Anfallsform und eines bestimmten Anfallsverlaufs sind völlig bewusst  - - - - -  völlig unbewusst.

 

* Der eigene aktive Anteil bei der Durchführung des Anfalls

Der  Anfallsablauf ist vollständig bewusst und aktiv gesteuert.  - - - - -  Der Anfallsablauf wird (falls er überhaupt miterlebt wird) vollständig passiv erlebt ohne Beeinflussungsmöglichkeit.

 

* Die aktive Beteiligung an der Initiierung des Anfalls

Die Auslösung des Anfalls erfolgt aktiv, bewusst und gewollt   - - - - - -   Die Anfallsauslösung erfolgt ohne jede bewusste oder willentliche Beteiligung.

 

* Die Gründe für das Auftreten eines bestimmten Anfalls zu einem bestimmten Augenblick

Völlig bewusstes Wissen über diese Gründe  - - - - - -   Völlige Unbewusstheit über diese Gründe.

 

* Die innerseelischen / psychosozialen Konflikte oder Zwecke, die die Anfälle letztlich motivieren

Völlig bewusstes Wissen über diese Gründe  - - - - - -  Völlige Unbewusstheit über diese Gründe.

 

Dieses Modell geht also davon aus, dass sich in einem psychogenen Anfall bewusste und unbewusste Aspekte auf eine individuelle Art und Weise mischen können.

Wenn ein Teil der Aspekte bewusst ist, heisst das noch lange nicht, dass andere Aspekte ebenso bewusst sind.

Wenn Aspekte bewusst sind, heisst das noch lange nicht, dass sie auch beliebig willentlich beeinflusst werden können.

Selbst wenn viel im Anfallsablauf bewusst und „gemacht“ ist, können die Motive für den Anfall und die innerseelische Notlage für den Patienten unklar und willentlich unlösbar und unbeeinflussbar sein.

 

Wenn alle Schiebregler auf völlig bewusst / völlig beeinflussbar stehen, handelt es sich um die klassische Simulation, unserer Erfahrung nach kommt das aber nur sehr selten vor.

 

Die praktische Anwendbarkeit dieses Modells stösst auf die Schwierigkeit, dass sich eine Aussage zum Bewusstheitsgrad / zur Beeinflussbarkeit dieser einzelnen Aspekte natürlich nur dann machen lässt, wenn der Patient eine Bewusstheit angibt und Angaben über den Anfallsablauf macht.

Verneint der Patient Bewusstheit, kann dies stimmen oder nicht. Bezweifelt man seine Aussage, bleibt man auf Vermutungen und mehr oder weniger plausible Verdachtsmomente angewiesen, die sich aus Inkohärenzen seines Anfallsverhaltens ergeben.

Für den praktischen Umgang mit psychogene Anfällen ist die detaillierte Beantwortung der Frage, was und wie viel von den Anfällen bewusst ist, aber ohne grosse Bedeutung. Detektivisches Entlarvenwollen führt nicht gross weiter.

 

 

Gründe für und Ursachen von psychogenen Anfällen

 

Psychogene Anfälle sind alles andere als selten. Man möchte fast sagen, dass sie eine der normalen menschlichen Reaktionsmöglichkeiten auf eine schwierige Situation sind.

Im grossen und ganzen trifft man sie in 2 Konstellationen an (mit Überlappungsmöglichkeit).

 

  • Die psychogenen Anfälle sind Ausdruck einer chronischen seelischen Problematik (Neurose, Persönlichkeitsstörung):

Sie kommen typischerweise vor bei schwerwiegender chronischer seelischen Problematik oder Notlage oder einer tiefgreifenden Persönlichkeitsstörung oder -Fehlentwicklung, z.B. bei der emotional unstabilen Persönlichkeit ( = Borderline-Persönlichkeitsstörung) oder bei der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) nach destruktiven psychischen Erfahrungen (z.B. nach sexuellem Missbrauch oder schwerer Gewalterfahrung in der Kindheit).  Äussere Umstände spielen dann beim Zustandekommen der Anfälle nur eine Nebenrolle, diese beziehen ihre Motivation und Gestalt aus dem ungelösten innerseelischen Konflikt. In diesem Zusammenhang sind die psychogenen Anfälle oft selbstschädigend (autodestruktiv), sich selbst gegenüber brutal und schwer zu beeinflussen.

Sie können aber auch vorkommen bei weniger schweren Neurosen und Persönlichkeitsvarianten, z.B. bei der histrionischen Persönlichkeit (früher: Hysterie).

 

  • Die psychogenen Anfälle resultieren aus einem momentanen Missverhältnis zwischen der seelischen Konstitution, der Belastbarkeit und den Konfliktlösungsmöglichkeiten einer Person und einer belastenden Lebenssituation und sie sind Ausdruck einer vorübergehenden Hilflosigkeit. Sie können wieder verschwinden, wenn die Person eine andere Möglichkeit des Umgangs mit dem zu lösenden Lebensproblem gefunden hat oder dieses nicht mehr besteht.
    In diesen Zusammenhang gehört auch, dass behinderte Menschen, deren Fähigkeit zur vernünftigen Selbstkritik begrenzt ist, psychogene Anfälle manchmal sehr naiv und unschuldig – „schlitzohrig“ einsetzen können, um bestimmten Anforderungen aus dem Wege zu gehen oder bestimmte Vergünstigungen (z.B. Zuwendung) zu erhalten.

 

 

 

Wie mit psychogenen Anfällen umgehen?

 

  • Sobald man sich der Einschätzung des Anfalls als psychogen sicher ist, besteht keinerlei Grund zur Hektik:

* ruhig, gelassen, geduldig, aufmerksam und unaufdringlich präsent den Anfallsablauf begleiten.
* dem Patienten signalisieren, dass man sich akut keine Sorgen macht und dass er durch seinen Anfall keine weiteren, insbesondere intensivmedizinischen Aktionen seiner Umwelt erreichen wird.
* nicht versuchen, den Anfall aktiv zu beenden, z.B. durch entsprechende Aufforderungen an den Patienten. Der Anfall wird früher oder später von allein aufhören.

 

  • Alles unterlassen, was für den Patienten entwertend sein könnte, vor allem despektierliche Bemerkungen der Mitarbeiter untereinander, verbale oder nonverbale Mitteilung an den Patienten, dass man ihn durchschaut und entlarvt hat, das er einen nervt…..

 

  • Publikum entfernen !!

 

  • Dem Patienten schon im Anfall auch verbal mitteilen, dass es kein epileptischer Anfall ist, dass die Ursache des Anfalls in einer seelischen Problematik liegt und dass er bei deren Bewältigung Hilfe erhalten wird.

 

 

Welche Therapie ?

 

  • Den Patienten in voller Offenheit über die Diagnose aufklären und psychotherapeutische Hilfe anbieten.

Dies reicht nicht selten schon aus, damit keine weiteren Anfälle mehr auftreten: im günstigen Falle begibt sich der Patient auf die Suche nach einer angemesseneren Konfliktlösung, im ungünstigen Fall treten anstelle der psychogene Anfälle andere neurotische oder körperliche Symptome !)

 

  • Dem Patienten helfen, ein Verständnis für das zu entwickeln, was „psychogen“ bedeutet, Vorurteile des Patienten und seiner Umgebung identifizieren und korrigieren.

 

  • Dem Patienten authentisch mitteilen und zu verstehen geben, dass man psychogene Anfälle genau so ernst nimmt wie epileptische und dass man sie nicht als etwas Minderwertiges ansieht. Damit der bei vielen Patienten eintretenden Selbstentwertung durch diese Diagnose entgegenwirken.
    Diese Haltung muss man nicht nur mitteilen, sondern tatsächlich haben und durch das gesamte Setting der Station ausdrücken.

 

  • Antiepileptica rigoros absetzen/ ausschleichen !

 

  • Motivation für Psychotherapie erarbeiten und Psychotherapie anbahnen oder beginnen: 
    je nach Gesamtsituation kürzer oder länger, verhaltens- oder tiefenpsychologisch orientiert, mit verbalen oder nichtverbalen Methoden, ambulant oder stationär, individualpsychologisch oder unter Einbeziehung der Bezugspersonen ……
    Eine spezifische Psychotherapie gegen psychogene Anfälle gibt es nicht.


 

 

 

Formen und Ursachen von Epilepsien

 

Man unterscheidet zwischen idiopathischen und symptomatischen Epilepsien.

 

Die einzige fassbare Ursache einer idiopathischen Epilepsie (etwa 20% aller Epilepsien) ist die Vererbung. Vererbt wird die Veranlagung zur Epilepsie, ohne dass dieser Veranlagung eine anderweitig fassbare Hirnschädigung zugrunde liegt.

 

Man kennt einige wenige, zahlenmässig unbedeutende Epilepsie – Syndrome mit einfacher autosomal-dominanter Vererbung, bei denen man auch das eine verantwortliche Gen und die durch dieses verursachte Anomalie im Aufbau und Stoffwechsel der Gehirnzellen kennt (Beispiele: ADNFLE = autosomal dominante nächtliche Frontallappenepilepsie; Epilepsie mit benignen Neugeborenenkrämpfen). Diese Epilepsien treten gemäss den Mendel’schen Vererbungsregeln in jeder Generation auf, bei 50% der Nachkommen einer/s Erkrankten.

 

Die Mehrzahl der idiopathischen Epilepsien folgt jedoch einem weniger übersichtlichen und viel weniger durchschlagenden Erbgang (multifaktorielle Vererbung) mit mehreren beteiligten Genen, die in verschiedenen Kombinationen zusammenspielen können. Diese Gene sind zum größeren Teil  derzeit noch unbekannt, es wird jedoch viel daran geforscht. Oft werden zahlreiche Generationen übersprungen. Nur in 15% kennt jemand mit einer solchen Epilepsie in seiner Verwandtschaft jemanden, der auch eine hat. Interessanterweise finden sich in den EEGs der nichterkrankten Familienangehörigen ziemlich häufig epilepsietypische Abläufe von kurzer Dauer, ohne dass diese Personen jemals in ihrem Leben einen Anfall bekommen. Das Vorhandenseins dieses EEG-Merkmals hat also keinen Krankheitswert und ist kein Grund für eine Behandlung.

Anhaltspunkte für die Wahrscheinlichkeit des Auftretens bei Verwandten eines Erkrankten (am Beispiel der idiopathischen generalisierten Epilepsie mit Aufwach - Gm): Für eineiige Zwillingsgeschwister: 70 – 80 %.   Für Geschwister und Nachkommen 5 – 7 %.

Nichterkrankte können die Krankheit somit unwissentlich weitervererben, es gibt noch keine Möglichkeit festzustellen, ob sie dies im Einzelfall tun oder nicht.

 

Die Ursache einer symptomatischen Epilepsie ist eine Hirnschädigung (auch wenn diese ihrerseits vererbt ist, wie z.B bei der Tuberösen Sklerose ). Diese ist entweder aus der Vorgeschichte evident (z.B. entsprechend dramatische Geburtsumstände, Schädel-Hirn-Trauma…) und / oder fassbar in einer Entwicklungsretardierung, im neurologischen Befund, in der Kernspintomografie. In einem Teil von mit Sicherheit symptomatischen Epilepsien kann man mit den heutigen Methoden die Hirnschädigung noch nicht erfassen, man spricht dann von einer kryptogenetischen Epilepsie.

 

 

 

A) Idiopathische Epilepsien

 

Es gibt in dieser Gruppe generalisierte und fokale,  früh- und spätbeginnende, mild  und schwer verlaufende, leicht und schwierig zu behandelnde Epilepsien. Im Folgenden eine kleine Auswahl wichtiger Krankheitsbilder.

 

Idiopathische generalisierte Epilepsie mit Aufwach – Grand mal

* Beginn in der Jugend oder im frühesten Erwachsenenalter bei völlig normal entwickelten Personen.

* Auralose Grand mal – Anfälle, vorwiegend gebunden an die erste Zeit nach dem Aufwachen aus dem Schlaf, also im Allgemeinen morgens, jedoch ebenso auch aus einem Tagesschlaf, ausserdem in der abendlichen Entspannungssituation.

!!! *Hochgradig anfallsprovozierend wirken:

vorangegangener Schlafmangel, starke Verschiebung der Schlafenszeiten, plötzliches Gewecktwerden, vorangegangener Alkoholkonsum, Vergessen der Medikamenteneinnahme und vor allem Kombinationen aus diesen Faktoren.

 

* Häufig kombiniert mit Absencen (oder aus einer Absencenepilepsie des Schulalters hervorgehend) und myoklonischen Anfällen (siehe JME) und / oder mit Fotosensibilität.

* Keine fortschreitende Erkrankung, keine Hirnschädigung durch die Anfälle oder die Epilepsie, jedoch auch keine spontane Besserung zu erwarten, wie oft irrtümlich angenommen wird. Diese Epilepsie verschwindet nicht mit dem Alter!

* Keine Auswirkungen auf die Lebensplanung ausser (meist nur zeitweise) auf die Fahreignung und auf die Eignung für manche Berufe.

* Ein Teil der Patienten kann allein durch Vermeidung der Provokationsfaktoren anfallsfrei bleiben, mit Antiepileptica (in erster Linie Valproinat) kann man in 80 – 90 % Anfallsfreiheit erzielen. Oft bleiben  im  EEG trotzdem epilpsietypische Veränderungen bestehen. Auch nach Jahren der Anfallsfreiheit beim Absetzen der Medikamente sehr hohes Rückfallrisiko, deshalb Dauerbehandlung erforderlich.

 

 

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Epilepsie und Führerschein

 

Maßgebend sind die vom Bundesverkehrs – und Gesundheitsministerium herausgegebenen regierungsamtlichen Leitlinien.

Sie orientieren sich an der von einem Anfall am Steuer ausgehenden Fremdgefährdung.

 

Wer eine Epilepsie hat, darf nur dann Auto fahren, wenn er

 

·         über ein Jahr lang anfallsfrei war und zu erwarten steht, dass diese Anfallsfreiheit anhalten wird (in besonders gelagerten Fällen kann aber eine längere anfallsfreie Frist erforderlich sein)

 

·         zwar nicht anfallsfrei ist, aber von seinen Anfällen keine Beeinträchtigung seiner Fahreignung ausgeht. Dies ist  der Fall bei streng schlafgebundenen Anfällen, wenn sich diese Schlafbindung in den letzten 3 Jahren erwiesen hat, sowie bei ausschließlichem Auftreten von fokalen Anfällen ohne Beeinträchtigung von Bewusstsein und Reaktionsvermögen.

 

Die Fahreignung darf nicht angenommen werden bei auraeingeleiteten Anfällen (selbst wenn in der Aura noch Reaktionsfähigkeit besteht) und bei Bindung der Anfälle an bestimmte Situationen oder Zeiten (wie z.B. beim Aufwach-gm).

 

Eine Antiepilepticabehandlung in üblicher verträglicher Dosierung beeinträchtigt die Fahreignung nicht.

 

Dies gilt für alle motorisierten Fahrzeuge bis 3.5 t, für die man einen Führerschein braucht.

Für die Teilnahme am Straßenverkehr als Fußgänger, Inline-Skater, Radfahrer und Mofafahrer finden die Leitlinien keine Anwendung, in diesen Fällen wird die Fremdgefährdung als nicht bedeutsam  betrachtet.  Die Eigengefährdung bzw. das Risiko, das jemand für sich selbst einzugehen bereit ist, ist in diesem Falle nicht Gegenstand staatlicher Vorschriften, sondern einer ärztlichen Beratung bezüglich des individuellen Risikos und einer freien Entscheidung des (hoffentlich) vernünftigen Patienten.

 

Für alle Fahrzeuge über 3.5 t und für die gewerbliche Personenbeförderung gelten sehr viel strengere Regeln. Eine Epilepsie macht den Beruf des Lastwagen-, Bus- Krankenwagen-  oder Taxifahrers praktisch immer unmöglich.

 

 

Zu unterscheiden ist der Beratungsfall und der Begutachtungsfall.

 

Im Beratungsfall ist die Führerscheinbehörde nicht eingeschaltet oder beteiligt. Der behandelnde Arzt teilt dem Patienten die in seinem Fall geltende Einschränkung mit und vermerkt dies in der Krankenakte. Eine Meldung an die Führerscheinbehörde erfolgt nicht. (Ausnahme: unverbesserlich uneinsichtiger Patient). Wenn der Patient trotzdem fährt, riskiert er im Falle eines anfallsbedingten Unfalls den Verlust seines Haftpflichtversicherungsschutzes, den Führerscheinentzug und strafrechtliche Folgen ( fahrlässige Körperverletzung oder Tötung ).

Die Wiederzuerkennung der Fahreignung erfolgt auf die gleiche Weise.

 

Der Begutachtungsfall liegt vor, wenn die Fahrerlaubnisbehörde von der Epilepsie auf irgendeine Weise erfahren hat, meist anlässlich eines anfallsbedingten Unfalls. Sie fordert dann den Führerschein zurück, verlangt eine Begutachtung durch einen Facharzt mit verkehrsmedizinischer Qualifikation, und zieht aufgrund dieses im Allgemeinen negativ ausfallenden Gutachtens die Fahrerlaubnis ein. Die Wiederzuerteilung setzt ein erneutes Gutachten voraus. Dieses Verfahren ist für den Betroffenen mit je nach begutachtendem Arzt erheblichen Kosten verbunden, das Gutachten geht voll auf seine Rechnung.

Wenn der Führerschein mehr als 2 Jahre am Stück eingezogen war, muss er danach neu gemacht werden !  

 

 

 

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Juvenile Myoklonus-Epilepsie (JME, Janz-Syndrom)

* Beginn in der Jugend.

* An die Zeit nach dem Aufwachen gebundene beidseitige Myoklonien vor allem der Arme.

* Provokationsfaktoren wie bei Aufwach - Gm.

* Sehr häufig treten gm vom Typ des Aufwach - gm hinzu, oft besteht Fotosensibilität.

* Die weiteren Punkte wie beim Aufwach - gm.

 

Absencen-Epilepsie des Kindesalters (Pyknolepsie)

* Beginn meist im Grundschulalter bei völlig normal entwickelten Kindern.

* Typische Absencen von 5 – 15 Sekunden Dauer, vor allem in den Morgenstunden oder abends, können in grosser Mengen auftreten, leicht zu übersehen, häufig als Verträumtheit oder Unaufmerksamkeit fehlgedeutet, sicher hervorzurufen durch Hyperventilation.

* Klassisches EEG-Bild ( 3/Sekunde-Spike-Waves ).

* Antiepileptische Therapie führt fast immer zur Anfallsfreiheit.

* Hinzutreten von Aufwach - Grand mal und / oder myoklonischen Anfällen wie bei der JME ziemlich häufig, somit häufig Übergang in eine der beiden og. Formen.

* Wenn es bei Absencen bleibt, oft dauerhafte Anfallsfreiheit nach Absetzen der Behandlung nach mehreren Jahren. Die Absencen-Epilepsie kann jedoch auch lebenslang in reiner Form bestehen bleiben.

* Solange Absencen vorkommen, sind Aufmerksamkeit und Schulleistungen naturgemäss beeinträchtigt, sonst ist keine Entwicklungsbeeinträchtigung zu befürchten.

 

Altersgebundene benigne (=gutartige) idiopathische fokale Epilepsien des Kindesalters

* Treten im Kindesalter in einer relativ eng begrenzten Alterstufe auf.

* Fokale Epilepsien mit fokalen Anfällen und sekundär generalisierten Grand mal - Anfällen.

* Keine Hirnschädigung als Ursache der Anfälle fassbar.

* Ursache ist wahrscheinlich eine erblich bedingte zeitweilige Reifungsverzögerung der betroffenen Hirnbereiche.

* Die Epilepsie verschwindet von allein in der Pubertät, die Behandlung kann dann abgesetzt werden.

 

Die häufigste Epilepsie aus dieser Gruppe ist die 

„Rolando“ - Epilepsie ( = benigne Epilepsie des Kindesalters mit zentrotemporalen spikes)

* Eine der häufigsten Epilepsien des Kindesalters.

* Beginn meist im Grundschulalter.

* Anfälle meist aus dem Schlaf, Anfälle am Tag seltener.

* Einfach-fokale motorische (tonische oder klonische) oder sensorische Anfälle im Gesicht. Generalisierung zum Grand mal häufig, Status nicht ganz selten.

* Meistens nur relativ wenige Anfälle im Laufe der Erkrankung (bei der Hälfte der Kinder insgesamt 5 Anfälle oder weniger).

* Nur in der aktiven Phase der Epilepsie können leichte Beeinträchtigungen geistiger Fähigkeiten bestehen
( Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Sprache, Verhalten, Koordination, Lernprobleme in der Schule ). Diese verschwinden, wenn die Epilepsie geheilt ist.

* Die Epilepsie und die Begleitprobleme verschwinden von allein, schon im Kindesalter oder spätestens im Jugendalter.

* Die Heilung tritt mit oder ohne Behandlung mit praktisch 100%iger Sicherheit ein. Bei häufigen Anfällen ist die Behandlung mit einem Antiepilepticum ( Sultiam = Ospolot oder Carbamazepin, Absetzversuch nach 2 Jahren ) möglich. Folgeschäden bleiben keine zurück.

 

 

 

SCN1A – Epilepsien

Es handelt sich um eine Gruppe von z.T. sehr schwer verlaufenden kindlichen Epilepsien, bei denen man erst in jüngerer Zeit herausgefunden hat, dass sie alle durch Mutationen im sogenannten SCN1A-Gen (auf Chromosom 2) hervorgerufen werden.

Es kommt oft vor, dass diese Mutation erst bei dem Betroffenen entstanden ist, seine Vorfahren sie also noch nicht hatten (de novo-Mutation). Die Vererbung erfolgt, wenn die Mutation einmal vorhanden ist und der Betroffene Kinder bekommen, autosomal-dominant.

Neben anderen (weniger dramatisch verlaufenden) Krankheitsbildern grenzt man in dieser Gruppe ab:

 

SMEI = severe myoclonic epilepsy in infancy = schwere frühkindliche myoklonische Epilepsie = Dravet-Syndrom

* Beginn im ersten Lebensjahr nach bis dahin normaler Entwicklung und ohne Hinweise auf irgendeine Hirnschädigung.

* Schwere und lange oft durch Fieber ausgelöste Grand-mal-Anfälle, Halbseiten-gm-Anfälle, später treten myoklonische Anfälle hinzu. Auch atypische Absencen und komplex-fokale Anfälle, aber kaum jemals tonische Anfälle (im Gegensatz zum LGS, siehe später). Oft Status epilepticus.

* Fortschreitende motorische Verschlechterung (Koordinationsstörungen) und zunehmend schwere geistige Retardierung, Sterblichkeit hoch (16% nach 11 Jahren).

* Sehr schlecht zu behandeln.

 

Schwere frühkindliche Grand mal-Epilepsie (ICE-GTC = intractable childhood epilepsy with generalized tonic-clonic seizures)

Wie Dravet-Syndrom, im Vordergrund stehen aber Grand-mal-Anfälle und Halbseiten-Grand mal.

Eine der wenigen Indikationen für eine Behandlung mit Brom.

 

 

 

B) Symptomatische Epilepsien

 

Praktisch jede Schädigung der Grosshirnrinde kann zu einer Epilepsie führen.

Am häufigsten findet man folgende Hirnschädigungen:

 

* “Frühkindliche Hirnschädigung“: Dieser Begriff besagt, dass eine Schädigung vorliegt, die irgendwann zwischen Geburt und 2.Lebensjahr eingetreten ist. Der Begriff hatte seine Berechtigung zu Zeiten, als es noch keine Kernspintomografie gab und man die Art der Schädigung zu Lebzeiten in vielen Fällen nicht ermitteln konnte. Heute sollte man diesen Begriff nicht mehr verwenden, sondern anstelle dessen versuchen, die genaue Art der Schädigung mittels Kernspintomografie festzustellen.

 

 

 

 

Kernspintomographie

 

·         Methode zur bildlichen Darstellung des Gehirns in Schnittbildern, die die Neurologie seit den späten 80er Jahren revolutioniert hat.

·         Beruht auf  der Kombination eines sehr starken Dauermagnetfeldes mit wechselnden hochfrequenten elektromagnetischen Feldern. Also keine Röntgenstrahlung und somit keine Strahlenbelastung im Gegensatz z.B. zum CT. Beliebig viele Untersuchungen möglich.

·         Jede beliebige Ausrichtung der Schnitte möglich.

·         Verschiedene Aufnahmetechniken ermöglichen Bilder mit verschiedener sich ergänzender Aussagekraft.

·         Präzision der Bilder, die  an die eines mit bloßem Auge betrachteten anatomischen Schnittes heranreicht.

·         Schmerzlos und ganz offensichtlich ungefährlich. Der einzige bekannte biologische Effekt, der während einer Untersuchung auftritt, ist eine minimale Erwärmung des Körpers.

·         Metall, das von einem Magneten angezogen wird, darf nicht ins Gerät (alle seit den 90er Jahren in der Chirurgie verwendeten Metalle sind unbedenklich).

·         Elektronische Implantate (Herzschrittmacher……) dürfen nicht oder nur unter bestimmten Vorsichtsmaßnahmen ins Gerät.

·         Setzt voraus, dass er Patient absolut still liegen kann. Andernfalls (z.B. bei Behinderten, Kindern) muss die Untersuchung in Kurznarkose erfolgen.

·         Die mit recht lauten Geräuschen einhergehende und lange Untersuchung (je nach Fragestellung 15 bis 45 Minuten) in enger Röhre ist für manche Patienten (Klaustrophobie) nicth auszuhalten.

 

 

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* Schädigungen infolge Sauerstoffmangel bei schwieriger oder verzögert verlaufener Geburt: Sie führen zu relativ charakteristisch im Gehirn lokalisierten Schäden, vor allem in den hinteren Hirnabschnitten und den motorischen Arealen. Besonders gefährdet sind Frühgeborene.

 

* Hirnblutungen unter der Geburt oder in den ersten Lebenstagen: leider kein ganz seltenes Ereignis, das schwere Hirndefekte hinterlassen kann.

 

* Schädigung des Gehirns während der Schwangerschaft durch Infarkt oder Blutung.

Hinterlässt mehr oder weniger ausgedehnte Defekte im Gehirn, mit nicht unbedingt sehr dramatischen Auswirkungen.

 

* Angeborene Fehlbildungen des Gehirns: Seit man Kernspintomografien macht, staunt man, wie häufig so etwas vorkommt. Ein Teil dieser Fehlbildungen hat eine erbliche Grundlage (z.B. die Tuberöse Sklerose, der Doppelkortex, die Lissencephalie und einige Arten der Heterotopien), bei den meisten kennt man die Ursache aber nicht. Bei manchen Betroffenen äussern sich diese Fehlbildungen nur in epileptischen Anfällen, bei anderen führen sie zu mehr oder weniger schweren Mehrfachbehinderungen.  

Beispiele:

·         Fokale kortikale Dysplasien: umgrenzte, oft kleine „Strickmusterfehler“ der Hirnrinde.

·         Lissencephalie / Pachygyrie: Verminderung oder völliges Fehlen der Faltung der Hirnrinde

·         Polymikrogyrie: Übermässige Faltung der Hirnrinde („blumenkohlartiges“ Bild) in einem mehr oder weniger grossen Bereich.

·         Schizencephalie: Ausbildung eines von missgebildeter Rinde ausgekleideten Spaltes zwischen Hirnoberfläche und Ventrikeln.

·         Doppelkortex: zwischen Hirnrinde und Ventrikeln liegt in der weissen Substanz ein Band aus fehlgebildetem Rindengewebe.

·         Heterotopien: in der weissen Substanz gelegene Knoten aus Rindengewebe.

·         Tuberöse Sklerose: zahlreiche dysplasieartige Fehlbildungsknoten in der Hirnrinde.

 

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Die Tuberöse Sklerose

 

  • Sehr häufig.
  • Autosomal dominant vererbt. Der Ausprägungsgrad kann bei den Betroffenen extrem unterschiedlich sein, so dass es nicht selten vorkommt, dass die TS eines Elternteils erst anlässlich der offensichtlichen Erkrankung eines Kindes festgestellt wird.
  • Die Erkrankung betrifft verschiedene Organsysteme.

 

Gehirn  (Veränderungen im Allgemeinen bereits von Geburt an vorhanden)

* Tuber = Dysplasien der Hirnrinde und der darunterliegenden weißen Substanz. Zahl und Größe sehr unterschiedlich, in ziemlich direktem Zusammenhang mit der Schwere der Symptome:   geistige Beeinträchtigung (von völlig intakt bis zur schweren geistigen Behinderung ist alles möglich)  und Epilepsie aller Schweregrade mit fokalen, komplex-fokalen und tonisch-klonischen Anfällen.

* Subependymale Knötchen:  kleine gutartige Tumoren in der Wand der Ventrikel, bedeutungslos.

* Riesenzellastrozytom:  manchmal kann ein solches Knötchen sich in einen solche eigentlich gutartigen Tumor umwandeln und dann wachsen à Blockade des Liquorflusses, Hydrocephalus, akuter Hirndruck (Kopfschmerzen, Erbrechen, Eintrübung des Bewusstseins).

 

Haut: (Veränderungen entwickeln sich erst mit zunehmendem Alter)

* Adenoma sebaceum (Angiofibrome) des Gesichts

* Hypomelanotische Flecken (white spots)

* Chagrinleder-Flecken

* Nagelfibrome

 

Nieren: (Zunahme der Veränderungen mit zunehmendem Alter)

* Gutartige, aber oft sehr große und zahlreiche Nierentumoren (Angiomyolipome). Risiko: Nierenblutungen.

* Nierenzysten, Zystennieren, Risiko: zunehmendes Nierenversagen, Bluthochdruck.

* Nierencarcinom, nicht häufiger, aber sehr viel früher als in der sonstigen Bevölkerung auftretend.

 

Herz

* Gutartige Herzmuskeltumoren (Rhabdomyome), von Geburt an vorhanden, wachsen nicht, bedeutungslos.

 

Andere Organe (Netzhaut, Lungen, Zähne, Knochen, Zahnfleisch) ebenfalls betroffen.

 

 

  • Verlauf:   Beeinträchtigend ist vor allem der Befall des Gehirns je nach Ausprägungsgrad von geistiger Behinderung und Epilepsie. 
    Die Lebenserwartung ist beeinträchtigt .durch die möglichen Nierenkomplikationen.
    Bei Vorliegen eines Riesenzellastrozytoms ist das plötzliche Auftreten von Hirndruck möglich
    à sofortige neurochirurgische Behandlung mit Shunt erforderlich.
  • Behandlung: manchmal gelingt es, den die für die Epilepsie verantwortliche Tuber ausfindig zu machen, dann operative Entfernung möglich.
    Ansonsten mit Antiepileptica.

 

 

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* Fehlbildungstumoren: Bereits während der Hirnentwicklung vor der Geburt entstehende gutartige kleine Tumoren, die später im Leben nicht mehr wachsen und keine Metastasen bilden, die aber hochgradig epileptogen sind. (DNT = dysembryoblastischer neuroepithelialer Tumor; Gangliogliom, Hamartom...). Machen meist nur eine Epilepsie, keine anderen Symptome.

Hierzu gehört auch das Hypothalamische Hamartom (s.u.)

 

* Angeborene Blutgefässfehlbildungen: „Blutschwämmchen im Gehirn“: arteriovenöse Fehlbildungen (AVM), Cavernome. Neben einer Epilepsie kann von ihnen auch die Gefahr von Hirnblutungen ausgehen.

 

* Hippokampussklerose: Der Hippokampus ist eine kleinfingergrosse Hirnwindung in der Tiefe des Schläfenlappens beidseits. Er spielt eine Schlüsselrolle bei der Einspeicherung von Gedächtnisinhalten in das Langzeitgedächtnis und beim Abrufen daraus (der linke HK für sprachliches, der rechte für bildhaftes Material). Der Hippokampus ist vor allem in den ersten Lebensjahren sehr empfindliche und kann relativ leicht geschädigt werden, z.B. durch Sauerstoffmangel, übermässig lange Fieberkrämpfe, eine Meningoencephalitis. In vielen Fällen kann man die Ursache einer Schädigung allerdings im Nachhinein nicht mehr ermitteln.

Diese Schädigungen führen zu einem sehr charakteristischen Umbau in der Gewebefeinstruktur, der sog. Hippokampussklerose: der betroffenen Hippocampus  ist verkleinert, verhärtet, enthält abnorme Neuronenverbindungen und gibt sich in der Kernspintomografie durch ein sehr charakteristisches Erscheinungsbild zu erkennen. Vor allem aber hat er die Fähigkeit bekommen, epileptische Erregung zu erzeugen. Verbunden damit ist eine durch entsprechende Tests feststellbare Beeinträchtigung seiner Leistungen (Sprachgedächtnis wenn links, bildhaftes Gedächtnis wenn rechts)

 

* Folgezustände und Defekte nach Hirnverletzungen, Hirnblutungen, Meningoencephalitis, Hirninfarkten.

 

* Hirnstoffwechselstörungen (im Allgemeinen angeboren / vererbt, z.B. Mitochondriopathien)

 

* Degenerative Hirnerkrankungen (z.B. Alzheimer)

 

* Relativ selten sind Epilepsien bei Multipler Sklerose.

 

* Bei einer Reihe von Epilepsien, die von der Art der Anfälle her eindeutig symptomatisch sein müssen, kann man mit den heutigen Methoden und Kenntnissen die Ursache (noch) nicht ermitteln, sog. nicht- läsionelle oder kryptogene Epilepsien.

 

Eine ähnliche Hirnschädigung kann bei verschiedenen Patienten bezüglich Anfallsart,  Zeitpunkt des Epilepsiebginns, Anfallsschwere und Anfallshäufigkeit zu sehr verschieden ausgeprägten Epilepsien führen. Warum dies so ist, weiss man nicht.

 

Symptomatische Epilepsien äussern sich im Erwachsenenalter in einfach – fokalen, komplex – fokalen  Anfällen fällen, deren Gestalt bestimmt wird vom Ort der Schädigung im Gehirn, und die sich weiterentwickeln können zu generalisierten tonisch-klonischen Anfällen.  Wenn, was bei symptomatischen Epilepsien nicht selten geschieht, nur generalisierte, tonisch-klonische Anfälle auftreten, muss man davon ausgehen, dass diese in Wahrheit fokal beginnen, aber so schnell generalisieren, dass der fokale Beginn im Anfallsablauf nicht oder nur bei besonders aufmerksamer Beobachtung noch erkennbar ist.

Wenn die Epilepsie einmal begonnen hat, geht sie mehr oder weniger auf die gleiche Weise und in der gleichen Stärke weiter. Epilepsien, die sich prozesshaft verschlechtern und ihrerseits zu einer zusätzlichen Hirnschädigung führen, stellen im Erwachsenenalter eine seltene Ausnahme dar.

 

Bei Kindern ist dies anders:

Bei Kindern können symptomatische und vom Ursprung her eigentlich fokale Epilepsien ganz oder überwiegend unter dem Bild generalisierter Anfälle ablaufen und einen eigenständig - prozesshaft sich verschlechternden, „bösartigen“ Verlauf nehmen (sog. epileptische Encephalopathie). Dies gilt vor allem, wenn eine ausgedehnte Hirnschädigung oder zahlreiche Schädigungsherde vorliege oder der Herd epileptisch sehr aktiv ist.

Grund: Im kindlichen Gehirn ist die Verschaltung der Neuronen noch nicht ausgereift à höhere Bereitschaft zu Anfällen im Allgemeinen und zur Generalisierung von fokaler epileptischer Erregung.

Es dominieren  dann auch bei eigentlich fokalen Epilepsien kleine generalisierte Anfallsformen (atypische Absencen, myoklonisch-astatische Anfälle, tonische Anfälle) und Grand - mal und generalisierte EEG-Veränderungen bis hin zum anhaltenden EEG-Status. Diese Epilepsien sind sehr therapieschwierig.
Diese Epilepsien verschlechtern sich rapide und führen zusätzlich zur ursprünglich bestehenden Hirnschädigung zu einer Hirnschädigung durch die Epilepsie. So kann es geschehen, dass eine Hirnschädigung, die für sich genommen keine grosse Bedeutung hätte, allein durch die von ihr ausgehende Epilepsie zu einer geistigen und körperliche Behinderung führt oder sich eine vorbestehende Behinderung durch die Epilepsie verschlimmert.

Verläufe dieser Art sind das West-Syndrom und das Lennox-Gastaut-Syndrom.

 

West-Syndrom (BNS-Krämpfe, „infantile Spasmen“)

* Beginn im ersten Lebensjahr.

* Vorherrschende Anfallsform sind die BNS-Krämpfe („Blitz-Nick-Salaam-Krämpfe“ ), d.h. kurze tonische Anfälle mit symmetrischen Beuge- und / oder Streckbewegungen der Gliedmassen und des Rumpfes / Nackens. Massenhaftes Auftreten ist typisch.

* Meist hat sich die zugrundeliegende Hirnschädigung schon vor Epilepsiebeginn durch eine Entwicklungsbeeinträchtigung zu erkennen gegeben.

* Durch die Epilepsie zusätzliche Hirnschädigung mit zusätzlicher Beeinträchtigung der bereits  vorher gestörten geistigen und motorischen Entwicklung. Endzustand:  oft schwere geistige Behinderung und motorische Beeinträchtigungen ( Ataxie, Gleichgewichtsstörungen ).

* Schwierig zu behandeln. Oft Cortison-Therapie (nebenwirkungsreich, gefährlich) erforderlich. Bei operierbarer Ursache kann eine beherzte Frühoperation die Entwicklung des Kindes retten, wenn man operiert, bevor die Epilepsie ihre volle Ausprägung erreicht und irreparable Schäden angerichtet hat.

* Heilung ohne ausgeprägtere Folgeschäden bei gutem Ansprechen auf die Behandlung immerhin möglich. Aber viel häufiger Übergang in eine chronische Epilepsie, oft über ein LGS (siehe unten), in Verbindung mit geistiger und körperlicher Behinderung. Mit zunehmendem Lebensalter entwickelt sich dann das klassische Bild mit tonischen, tonisch – psychomotorischen, psychomotorischen und gm-Anfällen bei geistiger Behinderung und Bewegungsstörung.

 

 

Lennox – Gastaut –Syndrom (LGS)

* Beginn 3.-5-Lebensjahr, oft aus einem West-Syndrom heraus. Falls bis zum Beginn des LGS noch keine Epilepsie besteht, ist oft aber schon eine Entwicklungsbeeinträchtigung aufgrund der zugrundeliegenden Hirnschädigung erkennbar.

* Typische Anfallsformen:  tonische Anfälle jeden Schweregrades (Sturzanfälle!); atypische Absencen; myoklonische Anfälle, gm. Hohe Statusneigung der kleinen Anfälle, Dämmerzustände.

* Durch die Epilepsie zusätzliche Hirnschädigung mit Beeinträchtigung der geistigen und motorischen Entwicklung, zusätzlich zu einer eventuell durch die Grunderkrankung / Hirnschädigung bereits bestehenden Behinderung. Endzustand:  oft schwere geistigen Behinderung und motorische Beeinträchtigungen ( Ataxie, Gleichgewichtsstörungen ).

* Spricht fast immer auf die Therapie sehr schlecht an.

* Heilung nur in Ausnahmefällen.

* Mit zunehmendem Lebensalter entwickelt sich das klassische Bild mit tonischen, tonisch – psychomotorischen, psychomotorischen und gm-Anfällen bei geistiger Behinderung und Bewegungsstörung.

 

Aber auch bei Kindern verlaufen die meisten fokalen Epilepsien günstig und nicht prozesshaft ohne die Entwicklung in ein West- oder Lennox-Gastaut-Syndrom.

 

 

 

 

Im Gegensatz zu den idiopathischen generalisierten Epilepsien mit ihren klar abgegrenzten Krankheitsbildern lassen sich bei den fokalen Epilepsien aus der Vielzahl der möglichen Krankheitsbilder und Verläufe nur wenige abgegrenzte Epilepsieformen hervorheben.

Eine davon ist aber ausserordentlich wichtig: die

 

Epilepsie des mesialen Temporallappens.

Ursache ist in der Mehrzahl der Fälle eine Hippokampussklerose, seltener eine Dysplasie, ein Cavernom oder ein Fehlbildungstumor in den inneren (mesialen) Bereichen eines Schläfenlappens.

Die Epilepsie beginnt (im Falle einer klassischen Hippokampussklerose) mit ungewöhnlich langen oder schweren Fieberkrämpfen im Kleinkindalter. Dann folgt ohne Therapie eine jahrelange anfallsfreie Zeit, oft bis ins Erwachsenenalter hinein. Dann beginnt die eigentliche Epilepsie mit komplex-fokalen Temporallappenanfällen und selteneren Grand mal.

Die gm kann man durch Antiepileptica meist verhindern, bei den komplex-fokalen Anfällen erreicht man bei der Mehrzahl der Patienten keine Anfallsfreiheit. Es handelt sich um intellektuell intakte Menschen, die jedoch oft durch die Anfälle in sozialer und beruflicher Hinsicht und in ihrer persönlichen Entwicklung zur Selbständigkeit beeinträchtigt sind.

Fast immer klagen sie im Laufe der Jahre über ein Nachlassen des Gedächtnisses: dies ist wahrscheinlich nicht bedingt durch eine Gedächtnisschädigung durch die Anfälle, sondern dadurch, dass die Gedächtnisleistung des geschädigten Hippokampus von vorne herein verringert ist, was aber erst im Rahmen der allgemeinen normalen altersbedingten Gedächtnisabnahme in Erscheinung tritt.

Patienten mit einer einseitigen mesialen Temporallappenepilepsie sind ideale Operationskandidaten: ihre Chance auf Anfallsfreiheit durch die Operation beträgt 70% (siehe weiter unten). Sie stellen den allergrössten Teil der epilepsiechirurgisch operierten Patienten.


 

 

Selten, aber hochcharakteristisch ist eine andere fokale Epilepsie: die

 

Epilepsie bei hypothalamischem Hamartom. Dies ist ein 1-2cm grosser völlig gutartiger Fehlbildungstumor im oder am Hypothalamus, also an der Unterfläche des Gehirns, nahe der Sehnervenkreuzung. Diese Hamartome sind hochgradig epileptogen. Ihre typische Anfallsform sind Lachanfälle (ein mechanisches Lachen, ohne dass es den Patienten dabei wirklich zum Lachen wäre). Ausserdem machen sie verschiedene Formen komplex-fokaler Anfälle und gm. Die Epilepsie ist therapieresistent. Oft bestehen eine geistige Entwicklungbeeinträchtigung leichteren Grades und verschiedenartige Verhaltensstörungen. Die operative Entfernung galt bis vor kurzem als schwierig und sehr riskant.

Ein in den letzten Jahren entwickeltes endoskopisches Operationsverfahren lässt endlich hoffen.

 

 


 

Epilepsie und Behinderung

 

Epilepsie und geistige / körperliche Behinderung durch Hirnschädigung können auf verschiedene Weise miteinander in Verbindung stehen.

 

Fall 1 (selten, aber immerhin möglich)

Es besteht eine Hirnschädigung, die zu einer Behinderung, aber nicht zu einer Epilepsie geführt hat.

Hinzu tritt dann eine Epilepsie aus völlig unabhängigen Gründen.

(z.B.:  idiopathische generalisierte Epilepsie mit Aufwach - gm, Epilepsie aufgrund einer später aufgetretenen Hirnverletzung oder eines neu aufgetretenen Hirntumors)

 

 

Hirnschädigung                  Behinderung

 

Unabhängige 2.Ursache                         Epilepsie

 

Fall 2

Es besteht eine Hirnschädigung, die zu einer Behinderung und zu einer symptomatischen Epilepsie geführt hat, Epilepsie und Behinderung beeinflussen sich aber gegenseitig nicht.

 

 

                                              Behinderung

                                            

Hirnschädigung 

                                               

                                               Epilepsie   

 

 

Fall 3

Es besteht eine Hirnschädigung, die zu einer (evtl nur leichten) Behinderung geführt hat.

Aufgrund der gleichen Hirnschädigung entsteht auch eine Epilepsie (vom Typ West-Syndrom oder LGS), die als progrediente Epilepsie / Encephalopathie verläuft und nun ihrerseits zu einer weiteren Hirnschädigung und zu einer Verschlimmerung der Behinderung führt.

 

 

 

                                              Behinderung   

                                                                                     

Hirnschädigung                                                                zusätzliche Hirnschädigung

                                               

                                               Epilepsie   

 

 

 

 

Fall 4

Ein Gen-Defekt (z.b. SCN1A) führt zu einer schweren Epilepsie, die unter dem Bild einer epileptischen Encephalopathie verläuft und zu einer Hirnschädigung und Behinderung führt. (Beispiel: Dravet-Syndrom).

Therapie der Epilepsien

 

 

 

Medikamentöse Epilepsietherapie

 

Die Behandlung mit Antiepileptica (AE, Einzahl: Antiepilepticum) spielt zahlenmässig die weitaus grösste Rolle bei der Epilepsie-Behandlung.

 

AE verhindern das Auftreten von Anfällen, heilen die Epilepsie aber nicht. Insofern ist die Bezeichnung „Antiepilepticum“ Hochstapelei. Beim Absetzen kann es ohne weiteres wieder mit Anfällen losgehen, falls der epileptische Krankheitsprozess nicht von selbst zur Ruhe  gekommen ist.

Das Absetzen einer über mehrer Jahre erfolgreichen AE-Therapie gelingt ohne Rückfall

*bei der Rolandi-Epilepsie jenseits der Pubertät in 100%

*bei einfach-fokalen Anfällen je nach Grunderkrankung in bis zu 75%

*bei sekundär generalisierten Grand mal nur in 27%

*bei komplex-partiellen Anfällen nur in 13%

*bei den myoklonischen Anfällen der JME fast nie.

 

AE-Therapie ist also in den meisten Fällen eine Dauertherapie von Jahren, Jahrzehnten oder lebenslang.

 

Abgesehen von einigen wenigen Epilepsieformen ist die Wirksamkeit eines AE im Einzelfall nicht vorauszusagen. D.h.: man muss solange ein AE nach dem anderen ausprobieren, bis man das wirksame gefunden hat. Dabei sollte man für jedes AE bis zu seiner Maximaldosis gegangen sein. Je häufiger man das AE wegen Wirkungslosigkeit wechseln muss, desto geringer ist allerdings die Chance, dass das nächste AE den Durchbruch bringt. Oft kommt man unweigerlich zu Kombinationstherapien aus mehreren AE oder versucht bewusst, durch AE-Kombinationen die Wirksamkeit zu verbessern. Oft muss man sich mit Teilerfolgen zufrieden geben. Immer muss man aufpassen, dass ein vielleicht nur noch geringer Erfolgszuwachs nicht durch die Nebenwirkungen zu teuer erkauft ist.

Der Begriff „Therapieresistenz“ ist nicht einheitlich festgelegt und wird in der Prächirurgie anders und viel früher verwendet als in der konservativen Epileptologie. Angesichts von nicht ganz so seltenen Fällen von jahrzehntelang bislang erfolglos behandelten Epilepsien, die dann doch noch durch ein neues AE anfallsfrei werden, sollte man vielleicht ganz auf ihn verzichten und lieber von „therapieschwierigen Epilepsien“ reden.

 

Erfolgsaussichten der AE-Therapie:

*sehr gering bei West-, Lennox-Gastaut-Syndrom, Dravet-Syndrom

*ca. 50% für Schläfenlappenepilepsien

*80 - 90% bei Pyknolepsie, JME und Aufwach-gm

*fast 100% bei Rolandi-Epilepsie

 

Wie ein AE vertragen wird, lässt sich im Einzelfall nicht voraussagen. Auch hier hilft nur probieren. Die Nebenwirkungen des Beipackzettels können auftreten, tun dies aber in der Mehrzahl der Fälle nicht. Die überwiegende Mehrzahl der Nebenwirkungen zeigen sich schon innerhalb der ersten Behandlungsmonate, sind im allgemeinen lästig, aber nur selten gefährlich, verschwinden oft durch Gewöhnung oder Dosiserniedrigung und hinterlassen, wenn sie zum Absetzen zwingen, nur in extremen Ausnahmefällen eine anhaltende Schädigung.

 

In allgemeinen gilt: Wenn ein AE in den ersten Monaten gut vertragen wurde, ist seine weitere Langzeitverträglichkeit exzellent, zumindest in Monotherapie.

Nebenwirkungen, die erst bei Langzeitanwendung von AE in Erscheinung, gibt es allerdings bei einigen AE:

*Kleinhirnschädigung und Polyneuropathie bei Phenytoin.

*Psychische Dämpfung und Müdigkeit mit allmählicher Zunahme der Beeinträchtigung der geistigen Fähigkeiten durch Phenobarbital und Benzodiazepine, bei Kindern intellektuelle Entwickungsbeinträchtigung

*Die Gesichtsfeldeinschränkungen durch Vigabatrin.

Kombinationstherapien sind generell problematischer, v.a. bei Menschen mit vorbestehender geistiger Beeinträchtigung und geringen Äusserungs- und Kompensationsmöglichkeiten.

!!!Unglaublich, aber wahr: Es gibt keine fortschreitende Leberschädigung durch den Dauergebrauch von AE.


 

 

Praktische Gesichtspunkte:

 

Einige AE werden nach festen Dosisrichtlinien aufdosiert ( z.B. Keppra ), einige nach dem Blutspiegel (z.B. Zentropil, Phenhydan ), einige allein nach Wirkung und Verträglichkeit ( z.B. Lamictal ).

 

Die Regelmässigkeit der Einnahme muss gewährleistet sein, aber ohne dass man auf die Minute pünktlich sein müsste. Am besten die Tabletteneinnahme an alltäglich zur selben Zeit wiederkehrende  Situationen (z.B. das Zähneputzen) koppeln. Einnahme der AE zu den Mahlzeiten ist heutzutage nicht mehr  erforderlich, kann aber bei individuell schlechter Magenverträglichkeit sinnvoll sein.

Man muss aber die Kontrolle darüber haben, ob man die Tabletten auch wirklich genommen hat. Deshalb AE für den Tag oder die Woche in einer Dosette vorrichten.

!!! Eine vergessene Einzeldosis ist erst einmal fast immer unbedenklich, muss aber in den folgenden Tagen evtl in mehreren Teilportionen zwischendurch nachgenommen werden. (In Absprache mit dem Arzt sind je nach Medikament und Dosis auch andere Lösungen möglich)

 

 

 

 

 

Die klassischen AE sind: 

 

Phenobarbital und das engverwandte Primidon (Luminal, Mylepsinum,....) 

Phenytoin (Zentropil, Phenhydan)

Carbamazepin (Tegretal, Timonil, Carbium.....)

Valproinat (Orfiril, Ergenyl, Leptilan, Convulex....)

Ethosuximid (Petnidan, Pyknolepsinum, Suxinutin)

Sultiam (Ospolot)

Benzodiazepine (Frisium, Rivotril, Tavor, Valium...)

 

 

Die neuen AE (seit 1990 auf dem Markt) sind:

 

Vigabatrin (Sabril)

Oxcarbazepin (Trileptal, Timox)

Lamotrigin (Lamictal)

Gabapentin (Neurontin)

Tiagabin (Gabitril)

Felbamat (Taloxa)

Topiramat (Topamax)

Levetiracetam (Keppra)

Pregabalin (Lyrica)

Zonisamide (Zonegran)

Lacosamid (Vimpat)

 

„Neu“ heisst nicht automatisch „besser“. Die neuen AE sind in ihrer Wirksamkeit nicht besser als die guten der klassischen AE, aber z.T. einfacher in der Anwendung und besser verträglich. Es ist zu bedenken, dass seltene oder schwer zu erkennende oder spät auftretende Nebenwirkungen bei den ganz jungen AE (unter 5 Jahre im Einsatz) möglicherweise noch nicht erkannt sind. (Warnendes Beispiel Sabril, siehe dort!).

Die neuen AE sind alle sehr teuer (Tagestherapiekosten bis über 20 Euro), kein Wunder bei Entwicklungkosten von mehreren 100 Millionen Euro, relativ kurzem Patentschutz und dem Risiko, dass sich das neue AE relativ bald als Flop erweist ( so z.B Neurontin und Gabitril wegen geringer Wirksamkeit, Taloxa und Sabril wegen erheblicher Nebenwirkungen, Lyrica wegen beidem).

 

 

 

 

Brom, BR (Dibro-Be)

*Ältestes AE. Spielt in der Kinderepileptologie heute noch / wieder eine gewisse Rolle bei einzelnen Epilepsieformen mit Grand mal.

*Nebenwirkungen:

-Akne, Bromoderm

- Dämpfung (siehe unten)


 

 

Phenobarbital, PB  (Luminal)

*Kann wegen seiner sehr langsamen Ausscheidung einmal täglich gegeben werden und sein Blutspiegel regiert auf Einnahmeunregelmässigkeiten nur gering. Geringe Tablettenmenge. Kann auch im oder iv gespritzt werden.

*Konkurrenzlos billig und altmodisch, aber weiterhin für eine Reihe von Patienten unverzichtbar.

*Nebenwirkungen:

-          Bei Überdosierung Müdigkeit, Apathie, Verlangsamung, Gleichgewichtsstörungen.

-          Dämpfung (siehe unten)

-          Bei Kindern Reizbarkeit und Antriebssteigerung

-          Allergien mit Hautausschlag zu Behandlungsbeginn möglich, aber selten. Man muss dann absetzen.

-          Verstopfung

-          Bindegewebsveränderungen: schmerzhafte Schultersteife, Dupuytren’sche Kontraktur der Hände.

-      Enzyminduktion (s.u.)

 

Primidon, PRM (Mylepsinum, Liskantin, Resimatil)

*Wird im Körper zu PB umgebaut. Hat keine Vorteile gegenüber PB.

*Wirksamkeit und Nebenwirkungen wie PB.

 

 

 

Phenytoin, PHT (Phenhydan, Zentropil)

* Etwas in den Hintergrund getretenes altes AE, etwas schwierig in der praktischen Anwendung (unstabiler Blutspiegel mit Überdosierungsrisiko) und ziemlich nebenwirkungsreich. Wichtiges Notfallmedikament zum Spritzen (iv.) bei Status. Die gesamte Tagesdosis kann auf einmal gegeben werden, #einschleichen ist nicht erforderlich.

* Nebenwirkungen:

-          Dämpfung, eher geringer als bei Phenobarbital.

-          Allergie, Enzyminduktion wie PB.

-          Zahnfleischwucherung (Gingivahyperplasie)

-          Vergröberung der Gesichtszüge

-          Vermehrung der Körper- und Gesichtsbehaarung

-          Kleinhirnschädigung bei hochdosierter und langjähriger Anwendung mit der Folge von z.T. hochgradigen Koordinations- und Gleichgewichtsstörungen.

-          Polyneuropathie ( dauerhafte Herabsetzung der Nervenleitfähigkeit, v.a. der Beinnerven mit der Folge von im Allgemeinen leichten Gefühls- und Gleichgewichtsstörungen ).

 

 

Carbamazepin, CBZ (Tegretal, Timonil, Sirtal, Carbium.....)

*Weiterhin sehr wichtiges AE bei fokalen Epilepsien. Nachteile sind, dass es nicht gespritzt werden kann und dass wegen rascher Ausscheidung der Blutspiegel im Tagesverlauf stark schwankt. Dadurch Gefahr der vorübergehenden Überdosierung (siehe unten).

*Macht erhebliche Verträglichkeitsprobleme bei der Kombination mit anderen AE (VPA,   LTG)

*Nebenwirkungen:

-          Allergie (siehe unten )

-          Wirkung auf Leber und Enzyminduktion wie bei PB.

-          Sedation und Beeinträchtigung geistiger Funktionen schwächer als bei PB, aber doch recht häufig auftretend.

-          Absinken der Zahl der Leukozyten ( weissen Blutkörperchen)  sehr häufig, jedoch so gut wie nie in einem wirklich bedenklichen Ausmass.

 


 

 

Valproinat, VPA (Orfiril, Ergenyl, Leptilan, Convulex)

*Bei allen Arten von Epilepsie wirksam.

*Wird heute praktisch nur noch in der retardierten Form gegeben (Orfiril long, Ergenyl chrono, Convulex retard), dann zwei Einzeldosen pro Tag ausreichend.

*Vorteil: keine Enzyminduktion, deshalb keine Beeinträchtigung der Wirksamkeit der Pille.

*Nebenwirkungen:

-          Gewichtszunahme, fast immer einige kg, manchmal aber auch enorm viel.

-          Haarausfall, meist relativ gering und nur vorübergehend, in seltenen Fällen bis zur Glatze (Nachwachsen der Haare nach dem Absetzen).

-          Zittern bei hoher Dosis.

-          Beeinflussung der Blutgerinnung, durch Störung der Funktion und Verminderung der Zahl der weissen Blutblättchen. Praktisch nie von Bedeutung (aber: als Schmerzmittel ASS vermeiden wegen gleichartiger Nebenwirkung).

-          Schwere Leberschädigung mit oft tödlichem Ausgang in den ersten Behandlungswochen kommt nur bei Kleinkindern vor, nicht bei Erwachsenen.

-          Valproatencephalopathie: Kann selten einmal in der Eindosierungsphase auftreten. Apathie, Bewusstseinseintrübung, Verlangsamung, Verwirrtheit, Verschlechterung der Anfallsituation, typische EEG-Veränderungen. Bessert sich sofort bei Dosisreduktion.

-          Dämpfung meist nicht oder nur gering.

 

Ethosuximid, ESM (Petnidan, Pyknolepsinum, Suxinutin)

*Wird ausschliesslich verwendet zur Behandlung der Absencen bei Pyknolepsie.

 

 

Sultiam, ST (Ospolot)

* Hat weiterhin Bedeutung bei den Kindern, wird aber bei Erwachsenen kaum verwendet.

* Hauptnebenwirkung: Beschleunigung der Atmung bis hin zu Kurzatmigkeit.

 

 

Diazepam, DZP (Valium, Diazepam-Rectiole)

* Zur Dauerbehandlung ungeeignet, aber wichtiges Notfallmedikament (iv oder rectal).

* Schlecht verträglich (starke Dämpfung)

 

 

Clonazepam, CLZ (Rivotril)

* Als Dauermedikament nur befristet wirksam

* Wichtiges Notfallmedikament (iv, Tropfen).

* Schlecht verträglich (starke Dämpfung)

 

Clobazam, CLB (Frisium)

            * Wesentlich besser verträglich als CLZ.

* Bei fast garantierter sehr guter Wirkung zu Beginn leider praktisch immer ebenso garantierter Wirkverlust nach Wochen bis spätestens Monaten. Nur in extrem seltenen Einzelfällen Dauerwirkung. Ideal und völlig unproblematisch zur Überbrückung von Problemsituationen oder zur Gewährleistung von Anfallsfreiheit über einige Tage.

*Bei Dauergebrauch wie bei allen Benzodiazepinen Abhängigkeit und Entzugsprobleme beim Absetzen.

 

Lorazepam (Tavor)

* Notfallmedikament. Es ist eine Legende, dass die Wirkung von Tavor expidet innerhalb von wenigen Minuten oder gar sofort eintritt.  Vorteil: lang anhaltende Wirksamkeit.

           

 


 

Vigabatrin, VGB (Sabril)

* Gut wirksam bei fokalen Epilepsien. Unverzichtbar bei West-Syndrom. Gut wirksam bei Tuberöser Sklerose.

* Leider in vielen Fällen Wirkungsverlust nach ca 1 Jahr.

* Schwere Nebenwirkung, die erst Jahre nach der Zulassung erkannt wurde: Gesichtsfeldeinschränkung in gut 30% der Fälle, die zwar nach Absetzen nicht schlimmer wird, aber sich auch nicht mehr bessert. Deshalb bei Patienten, bei denen die (relativ schwierige) Gesichtsfeldbestimmung nicht möglich ist, kaum oder nur mit Risiko einsetzbar (Kinder, Behinderte).

 

 

Oxcarbazepin, OXC  (Timox, Trileptal)

* Enger Verwandter des CBZ, aber wegen anderer Abbauwege manchmal besser verträglich.

Beeinflusst im Gegensatz zu CBZ die anderen AE nicht, deshalb leichter kombinierbar.

* Nur geringe Enzyminduktion.

* Sonst: siehe Carbamazepin.

 

 

Lamotrigin, LTG (Lamictal)

* Gut wirksam bei fokalen und generalisierten Epilepsien.

* Muss teilweise ziemlich hoch dosiert werden (nicht nach Spiegel, sondern allein nach Wirkung und Verträglichkeit).

* Vorteil: Keine Dämpfung. Eher sogar Steigerung von Antrieb und geistiger Leistungsfähigkeit, Abnahme des Schlafbedarfs.

* Nebenwirkungen und Probleme:

- Allergie (siehe unten), deswegen keine rasche Eindosierung möglich.

- Überdosierung (siehe unten )

- In Kombination mit VPA fast immer Zittern.

- Erhebliche Wechselwirkungen und deshalb Probleme in der Kombination mit anderen AE: Kombination mit CBZ wenig sinnvoll wegen gleichartiger Nebenwirkungen; zusammen mit PB oder PHT oder CBZ nicht auf vernünftige Wirkspiegel zu bringen.

 

 

Gabapentin, GBP  (Neurontin)

Gut verträglich, aber wenig wirksam, wird als AE nur noch wenig verwendet, hat sich aber in der Schmerztherapie seinen Platz gesichert.

 

 

Tiagabin, TGB  (Gabitril)

Fristet ein Schattendasein, wenig wirksam und relativ nebenwirkungsreich.

 

 

Felbamat, FBM  (Taloxa)

Gut wirksam, aber leider mit lebensgefährlichen Nebenwirkungen (Knochenmarks- und Leberschädigung in 1:3000 bzw 1:7000 Fällen) behaftet. Wird deshalb nur in ausgewählten Einzelfällen als letzte Reserve verwendet.

 

 

Topiramat, TPM  (Topamax)

* Gut wirksam bei fokalen und generalisierten Epilepsien.

* Problemlos kombinierbar mit anderen AE.

* Nebenwirkungen:

- Sehr häufig Dämpfung, Antriebsminderung und Sprachstörungen (Wortfindungsstörungen).

Entweder man verträgt es tadellos, oder man bekommt diese Nebenwirklungen schon bei relativ niedriger Dosierung (nicht vorhersagbar).

- Gewichtsabnahme, ob zum Vorteil oder zum Nachteil hängt von der Ausgangssituation ab.

- Nierensteinrisiko von ca 1.5%, v.a. bei vorbestehender erblicher Belastung. Deshalb nicht mit Vigantoletten oder Calcium kombinieren.

 

 


 

Levetiracetam, LEV  (Keppra)

* Sehr oft sehr gut wirksam, nicht selten auch bei jahrzehntelang bisher erfolglos behandelten Epilepsien.

* Problemlos kombinierbar, rasch aufdosierbar, bisher ohne bedenkliche Nebenwirkungen

* Nebenwirkungen selten und gering

- Selten ein Hautausschlag.

- Manchmal Magen-Darm-Probleme.

- Manchmal eine gewisse Sedierung.

*Häufig: bei geistig Behinderten Verhaltensstörungen, Antriebssteigerung, Aggressivität. Anwendbarkeit bei dieser Personengruppe dadurch leider eingeschränkt.

 

Pregabalin, PGB  (Lyrica)

* Wirksamkeit nicht befriedigend, Verträglichkeit eher problematisch
( Dämpfung, Anfallszunahme, Gewichtszunahme ).

*  Hat sich allerdings als Medikament zur Behandlung chronischer Schmerzen bewährt.

 

Zonisamide, ZNS (Zonegran)

*In Japan, Korea und den USA schon seit vielen Jahren in breiter Anwendung, in Europa seit Mitte 2005 auf dem Markt.

* Unkompliziert in der Anwendung, keine Wechselwirkungen, keine Leberbelastung, im allgemeinen gut verträglich. Wirksamkeit: Mittelklasse.

 

Rufinamid (Inovelon)

            * Zulassung (über orphan-drug-Sonderzulassungsverfahren) nur für das Lennox-Gastaut-Syndrom

 

Lacosamid, LCM (Vimpat)

            * Zulassung 9/08. Macht bezüglich Wirkung und Verträglichkeit bislang einen guten Eindruck.    (Stand 2/09)

 

 

Einige bedeutende, bei mehreren AE vorkommende Nebenwirkungen:

 

Allergie (Carbamazepin, Oxcarbazepin, und vor allem Lamotrigin):

Tritt meist innerhalb der ersten Behandlungswochen auf, selten später, dann bei rascher Dosiserhöhung. Juckender großflächiger kleinfleckiger Hautausschlag. Manchmal begleitet von Fieber, Lymphknotenschwellung, Leberwerterhöhung.

Kann sich weiterentwickeln zu lebensbedrohlichen Zustandsbildern mit großflächiger Blasenbildung an der Haut und im Mund.

Manchmal durch Dosisverringerung zu beheben, zwingt aber meist zum Absetzen. Das verantwortliche AE kann dann lebenslang nicht mehr verwendet werden.

Um diese Allergie zu unterlaufen, wird Lamictal sehr langsam aufdosiert.

 

Dämpfung, Müdigkeit, erhöhter Schlafbedarf, Beeinträchtigung der geistigen Leistungsfähigkeit und Verlangsamung der psychischen Vorgänge

(in erster Linie bei Phenobarbital, Primidon, Brom, Benzodiazepinen, Topirama, Pregabalin, weniger bei Phenytoin, Carbamazepin, Valproinat ),

Dosisabhängig bei von Fall zu Fall sehr unterschiedlicher Empfindlichkeit.

Bei Kindern besteht das hohe Risiko einer Entwicklungsbeeinträchtigung (unter Phenobarbital sogar Verminderung des Hirnwachstums ! ).

Vor allem bei geistig Behinderten besteht das Risiko einer längerfristigen fortschreitenden Beeinträchtigung ihrer Fähigkeiten, da sie ihre psychischen Kräfte und Möglichkeiten ohnehin schon völlig mobilisiert haben und keine Reserven, keinen eigenen Antrieb und keine Äußerungsmöglichkeiten haben, um sich gegen die medikamentenbedingte Einschränkung zu wehren.

 

Enzyminduktion in der Leber. Betrifft v.a. Phenobarbital, Primidon, Phenytoin, Carbamazepin. Diese AE werden in der Leber abgebaut.  Dabei regen sie die abbauenden Stoffwechselvorgänge der Leber zu gesteigerter Tätigkeit an. Folgen davon sind:

* Erhöhung eines bestimmten Leberwertes, der gamma-GT. Bedeutungslos, wenn, was in der Regel der Fall ist, der Wert nicht ständig steigt und die anderen Leberwerte normal bleiben.

* Beschleunigter Abbau anderer gleichzeitig gegebener AE oder anderer Medikamente, die keine ausreichenden Blutspiegel mehr erreichen.

* Wirkungsverlust der Pille, da deren Hormone verstärkt abgebaut werden und nicht mehr in wirksamer Menge zur Verfügung stehen.

* Vitamin D-Mangel durch einen vermehrten Abbau, der die Zufuhr und die körpereigene Produktion übersteigt, führt zu Calciummangel im Körper mit der Folge der Knochenentkalkung (vorzeitige Osteoporose). Wird begünstigt durch AE-Kombinationstherapie, Bewegungsarmut, zu wenig Aufenthalt im Sonnenlicht und Ernährungsstörungen. Die tägliche Gabe von Vitamin D (Vigantoletten) wirkt vorbeugend.

 

Überdosierung von Carbamazepin, Oxcarbazepin, Lamotrigin, Lacosamid, weniger Phenytoin. Kann in Kombinationstherapie dieser AE auch bei relativ niedriger Dosis der einzelnen AE auftreten:

Tritt 1-2 Std. nach Einnahme auf,  für ca ½  bis 1 Stunde anhaltend: Verschwommensehen, Doppeltsehen, Gleichgewichtsstörungen, Übelkeit.

Gegenmaßnahmen: 3 statt  2 Einnahmezeitpunkte, Tagesdosis vermindern, Begleitmedikation verändern.

 

Abhängigkeit: AE machen Epilepsiekranke nicht süchtig im Sinne eines unwiderstehlichen Verlangens nach dem Medikament zur Erzielung eines bestimmten psychischen Zustandes. Selbst die Benzodiazepine führen bei Epilepsiekranken nur dann zur Sucht,  wenn eine zusätzliche psychiatrische Erkrankung               ( Angsterkrankung, Suchterkrankung ) vorliegt.

Allerdings kann es beim Absetzen von manchen AE vorübergehend zu Entzugsanfällen kommen
( Phenobarbital, Levetiracetam ).

Als Dauertherapie angewandte Benzodiazepine machen körperlich abhängig, beim Abdosieren kommt es zu allgemeinen Entzugssymptomen (Unruhe, Schlafstörungen, Pulsbeschleunigung, Verwirrtheit, Halluzinationen) und zu Entzugsanfällen.

 

 

 

 

 

Operative Epilepsietherapie

 

Von Epilepsiechirurgie spricht man dann, wenn alleiniges oder hauptsächliches Ziel eines Eingriffs am Gehirn die Anfallsverminderung / Anfallsfreiheit ist und man ohne Vorliegen einer Epilepsie gar nicht operieren würde.

 

 

Resektive Operationen:

Sie haben zum Ziel, den epileptischen Herd zu entfernen und dadurch Anfallsfreiheit zu erreichen.

Voraussetzungen dafür, dass man eine solche Operation in Erwägung zieht, sind:

·         Die Anfälle müssen ihren Ursprung in einem eindeutig feststellbaren Herd haben, und zwar nur in einem einzigen. Dieser Herd muss sich im EEG während eines Anfalls klar darstellen und er sollte ausserdem einer in der Kernspintomographie feststellbaren Schädigung entsprechen.

·         Der Herd muss in einer Hirnregion liegen, in der man operieren kann, ohne Ausfälle hervorzurufen.

·         Es muss Pharmakoresistenz gegeben sein: d.h., einige AE (nicht unbedingt alle möglichen) sind in ausreichender Dosis ohne Erfolg eingenommen worden.

·         Die Anfälle beeinträchtigen das Leben des Patienten erheblich und es steht zu erwarten, dass mit ihrer Beseitigung sich die Lebensqualität bessert.

·         Der Patient muss zumindest ein Minimum von dem begreifen, worum es geht. Er muss bereit sein, sich operieren zu lassen, die Risiken auf sich zu nehmen und sich der langwierigen und z.T unangenehmen und manchmal nicht ungefährlichen Diagnostik zu unterziehen, die ein hohes Maß von Mitarbeit des Patienten erfordert.

 

Die in jeder Hinsicht besten Resultate werden erzielt bei jüngeren Patienten, wenn die Epilepsie noch nicht sehr lange besteht, bei guter Integration in ein soziales Umfeld einschliesslich Ausbildung und Beruf und wenn die Epilepsie noch nicht zu einer psychischen oder sozialen Fehlentwicklung geführt hat.

Gute Resultate setzen eine sorgfältige präoperative Diagnostik und eine kritische Auswahl der Operationskandidaten voraus.

Eine Operation kommt letztlich immer noch nur für ca 10% aller therapieresistenten Epilepsiepatienten in Frage.

 

 

Bei den meisten resektiven Operationen handelt es sich um Operationen am Schläfenlappen (Temporallappen).

Bei der Hippokampussklerose entfernt man gezielt den Hippocampus und den Mandelkern (AHE = Amygdalohippocampektomie) und zusätzlich manchmal einen mehr oder weniger grossen Teil der Temporallappenspitze.

Wenn andere Ursachen vorliegen, entfernt man diese gezielt, manchmal aber zusätzlich auch den Hippocampus.

Man kann allerdings am Hippokampus nur einseitig operieren, bei beidseitiger Operation würde man einen Totalverlust des Gedächtnisses hervorrufen.

Präoperative Diagnostik und Operation sind inzwischen gut eingespielte standardisierte Routine geworden. Eingreifende diagnostische Prozeduren (z.B. invasive Diagnostik, also EEG-Ableitung durch direkt auf die Gehirnoberfläche oder ins Gehirn eingebrachte Elektroden) sind bei Temporallappenepilepsien nur selten  erforderlich.

Erfolg: Anfallsfreiheit in ca 70%, Besserung in 20%. Allerdings müssen die Patienten auch nach der Operation noch ein AE einnehmen. Dieses dann nach einigen Jahren Anfallsfreiheit abzusetzen, gelingt keineswegs immer.

Folgen und Risiken: Todesfälle praktisch 0%. Schwerere Komplikationen, im allgemeinen vorübergehender Art, wie Wundinfektion, Nachblutung, Lähmung, Sprachstörung, Ataxie unter 5%.

 

Resektionsoperationen führt man auch an anderen Hirnteilen durch (vor allem im Frontallappen), allerdings mit sehr viel höherem diagnostischem Aufwand (oft invasive Diagnostik erforderlich: operatives Anlegen von EEG-Elektroden direkt an der Gehirnoberfläche), schlechteren und weniger gut vorhersagbaren Ergebnissen und höherem Risiko.

 

 

 

Nichtresektive Operationen

 

Die Hemisphärotomie besteht darin, dass man eine ganze Gehirnhälfte durch Durchtrennung sämtlicher Leitungsbahnen vom übrigen Gehirn isoliert. (Früher hat man sie sogar völlig entfernt). Dies setzt voraus, dass diese Hemisphäre so schwer geschädigt ist, dass sie zwar Anfälle erzeugt, aber keine nennenswerte sinnvolle Funktion mehr ausübt.

Dies ist der Fall bei Kindern mit schweren früh entstandenen einseitigen Hirnschädigungen oder Fehlbildungen. Die gesunde Hemisphäre übernimmt dann grosse Teile der Funktionen der kranken, die kranke taugt somit zu nichts oder fast nichts mehr, ist aber Ausgangspunkt einer meist sehr schweren und therapieresistenten Epilepsie, die die Entwicklung der Kinder hochgradig beeinträchtigt.

Das beste ist, in solchen Fällen früh im Kindesalter zu operieren, noch bevor durch die Epilepsie eine irreparable Entwicklungsbeeinträchtigung entstanden ist. Man kann dadurch in ca 60-80% Anfallsfreiheit erreichen und den Kindern so eine sehr viel günstigere Entwicklung ermöglichen, ohne ihre motorische Behinderung nennenswert zu verstärken.

Auch bei Erwachsenen wendet man diese Operationsmethode inzwischen an mit gutem Erfolg.

 

Die Kallosotomie wird nur selten durchgeführt. Sie bezweckt nicht, durch Beseitigung des Herdes Anfallsfreiheit zu erreichen, sondern sie will die Ausbreitung eines Anfalls von einer Hirnhälfte auf die andere verhindern.

Wenn tonische Anfälle einseitig bleiben, kann sich der Patient i.a. auf den Beinen halten, ein beidseitiger Anfall dagegen führt zum Sturz. Damit tonische Anfälle beidseitig ablaufen können, muss die Verbindung zwischen den beiden Hirnhälften intakt sein. Man durchtrennt bei der Kallosotomie ganz oder teilweise den Balken (Corpus callosum), die wichtigste Verbindung zwischen den beiden Hirnhälften. Man erreicht damit, dass die tonischen Anfälle einseitig ablaufen und somit nicht oder seltener zum Sturz führen.

Die Kallosotomie verringert also nicht die Gesamtanfallszahl, sie verringert aber die Zahl der beidseitigen Anfälle und damit der Stürze.

Man führt sie, wenn überhaupt, nur durch bei resektiv nicht operierbaren Epilepsien mit tonischen Sturzanfällen.

 

Liegt ein epileptischer Herd in einer Hirnregion, in der man durch seine Entfernung Ausfälle (Lähmungen, Sprachstörungen...) hervorrufen würde, kann man eine Multiple subpiale Transsektion (MST) durchführen. Man isoliert dabei einen nicht entfernbaren Herd in der Hirnrinde dadurch, dass man die von ihm ausgehenden horizontal in der Hirnrinde verlaufenden Bahnen durchschneidet, die für die Anfallsausbreitung nötig sind. Es kann sich danach von dieser Hirnregion aus kein Anfall mehr entwickeln, sie kann aber ihre normale Funktion weiterhin ausüben, da die von ihr aus in die Tiefe des Hirns und zu den peripheren Nerven ziehenden Bahnen unversehrt sind.

 

Vagusstimulation:  Dies ist keine Operation am Gehirn. Am Vagusnerv an der linken Halsseite werden Elektroden befestigt, die mit einem unter der Haut eingepflanzten Reizgenerator verbunden sind, der den Nerv in regelmäßigen Abständen für einige Sekunden stimuliert. Die durch den Vagusnerv ins Gehirn weitergeleiteten Reize führen dort zu einer Abnahme der epileptischen Erregbarkeit. Meist ist der Stimulator auf automatischen Dauerbetrieb eingestellt, man kann aber auch bei einer Aura die Reizung mit einem Magneten von Hand auslösen. Während der Reizung spürt der Patient ein Kribbeln in der Gegend der Elektroden und die Stimme ist vorübergehend heiser. Ernste Nebenwirkungen gibt es nur selten. Die Wirksamkeit ist aber nicht besonders hoch: Anfallsfreiheit tritt nur in ganz seltenen Einzelfällen ein, eine Besserung um 50% oder mehr in ca. 30% der Fälle. Konkret heisst dies, dass die Vagusstimulation bei therapieresistenten Epilepsien letztlich nicht viel bringt.

 

 

 

Andere Therapieverfahren

 

Therapieverzicht. Kann legitim sein bei sehr seltenen oder sehr milden oder rein schlafgebundenen Anfällen, bei sich erweisender Wirkungslosigkeit jeglicher AE-Therapie oder wenn der geringe Erfolg die Nebenwirkungen nicht rechtfertigt.

 

Biofeedback. Dem Patienten wird über eine bestimmte EEG-Ableitetechnik der Grad der Erregbarkeit seiner Hirnrinde auf einem Bildschirm bildlich präsentiert. Er lernt in zahlreichen Trainingssitzungen, diesen zu beeinflussen, d.h. vor allem zu verringern. Diese Fähigkeit soll er dann im Alltag entweder in regelmäßigen Abständen oder in anfallsträchtigen Situationen oder bei den ersten Anzeichen eines aufkommenden Anfalls  anwenden. Der Aufwand ist gross und die Ergebnisse sind in der praktischen Anwendung dann doch eher bescheiden, sicher z.T. auch deswegen, weil der Patient sehr viel Motivation und aktive Mitarbeit aufbringen muss. Ca 30% erreichen eine Anfallsreduktion um 50% oder mehr.

Die Methode ist derzeit wieder sehr in den Hintergrund getreten.

 

Transkranielle Magnetstimulation.  Das Verfahren ist noch experimentell und scheint dies auch zu bleiben. Das Gehirn wird in den Therapiesitzungen durch sehr starke magnetische Impulse stimuliert. Es gibt erste Ergebnisse mit zum Teil deutlicher Verminderung der Anfallshäufigkeit, die über Wochen anhält. Komplikationen und Nebenwirkungen haben sich bisher nicht gezeigt.

 

Ketogene Diät. Es ist seit langem bekannt, dass Fasten die Anfallshäufigkeit verringert. Die Stoffwechsellage der Ketose, die durch Fasten hervorgerufen wird, kann nachgeahmt werden durch eine Diät, die sehr wenig Eiweiß und Kohlenhydrate, dafür fast nur Fett enthält (Verhältnis Fett zu Kohlenhydraten 4:1). Diese Diät ist nachweislich sehr wirksam, ca ein Drittel wird fast ganz oder völlig anfallsfrei, mindestens die Hälfte aller Behandelten hat eine Anfallsminderung um 50% oder mehr, es sind auch noch bessere Resultate veröffentlicht worden.  Die Mehrzahl der ketogenen Diäten wurde bisher bei Kindern durchgeführt, aber auch Erwachsene können davon profitieren. Eine einzige Diätsünde (kohlenhydratreiche Mahlzeit) führt zum Wiederauftreten der Anfälle. Die praktische Durchführung muss gelernt werden und ist nicht ganz einfach. Die längerfristige Einnahme verlangt schon einiges an Willenskraft der Patienten bzw. deren Eltern. Eine genaue medizinische Überwachung im Krankenhaus ist in der ersten Zeit absolut erforderlich. Über Spätschäden durch längerfristige Anwendung (diese Diät widerspricht ja allen gängigen Ernährungsempfehlungen) ist nichts bekannt.

 

Alternativmedizinische Verfahren. Bestenfalls für eine gewisse Wirksamkeit von Akupunktur gibt es vereinzelte Hinweise, für alle sonstigen Verfahren nicht, aber in unserem Lande darf jeder sein Geld verdienen, womit er will, solang er nur Kunden findet.

 

 

Anfallsselbstkontrolle

Diese betrifft in der Mehrzahl Patienten mit auraeingeleiteten Anfällen. Von diesen haben einige ganz von allein die Erfahrung gemacht, dass sie mehr oder weniger wirksam gegen ihre Anfälle angehen können.

Das setzt voraus, dass man den Anfall möglichst früh in der Aura an seinen allerersten Anzeichen bereits wahrnimmt. Diese Fähigkeit lässt sich zum Teil trainieren.

Die angewendeten Gegenmaßnahmen sind individuell verschieden, wurden meist von den Betroffenen selbständig gefunden und orientieren sich am individuellen Anfallserleben:

*Willentliche Konzentration gegen den Anfall („den Anfall wegdrücken“)

*Bewusste Veränderung der Atmung.

*Sich auf etwas anderes konzentrieren, z.B. einen bestimmtem Punkt fixieren, an etwas bestimmtes denken, eine Rechenaufgabe lösen, ein Gedicht aufsagen....

*Sich entspannen.

*Sich eine angenehme entspannte Situation vorstellen.

*Auraspezifische Gegenmaßnahmen: bei einer Geruchsaura an einem Duftstoff riechen; bei einer Kribbelaura sich an der betroffenen Stelle reiben oder kneifen; bei einer akustischen Aura einen Ton summen; bei einer optischen Aura etwas intensiv anschauen....

 

Anfallskontrolle betrifft fast ausschliesslich Epilepsiekranke mit auraeingeleiteten Anfällen, und von diesen können nur wenige damit ihre Anfallsituation tatsächlich nennenswert verbessern. Diese Fähigkeit muss mit Motivation und Durchhaltevermögen trainiert und dann auch möglichst lückenlos angewandt werden.

Immerhin sind bei den veröffentlichten Fällen Patienten dabei, die völlige Anfallsfreiheit ohne Medikamente erreichen konnten. Auch wenn der Erfolg bei den Anfällen nicht ganz so glänzend ist, profitieren die Patienten durch:

*Positive Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl und Abnahme von Hilflosigkeit und Passivität.

*Förderung von Selbstwahrnehmung und selbstverantwortlichem kompetentem Umgang mit der Erkrankung.

 

 

 

 

Epilepsie und Kinderwunsch

 

Erblichkeit der Epilepsie:   siehe oben

 

Geschlechtsverkehr wirkt nicht anfallsprovozierend. Nur in seltenen Fällen kann so etwas vorkommen.

 

Die Libido und die Potenz sind bei Epilepsiekranken relativ oft verringert. Dabei können verschieden Ursachen eine Rolle spielen:

·         Störung der hormonellen Regulationszentren des Gehirns (Hypothalamus) durch die epileptische Hirnaktivität (bei Frauen dadurch oft auch Zyklusstörungen).

·         Beeinträchtigung durch dämpfende Medikamente.

·         Beeinträchtigung durch psychosoziale Fehlentwicklungen (Depressivität, geringes Selbstwertgefühl, Unselbständigkeit, Kontaktprobleme….)

 

Partnerschafts – und Heiratsrate sowie Kinderzahl sind bei Epilepsiekranken erheblich geringer als in der Durchschnittsbevölkerung.

 

AE und Pille

Die Wirksamkeit der Pille (und aller hormonellen Methoden, auch der Dreimonatsspritze!) wird beeinträchtigt durch Phenobarbital, Phenytoin, Carbamazepin, Oxcarbazepin und Topiramat (letzteres nur in hoher Dosierung)

Je niedriger dosiert die Hormone in der Pille sind, desto höher ist das Risiko des Versagens.

Wirklich sicher sind bei solchen AE nur die nichthormonellen Methoden.

Die Pille verringert die Wirksamkeit von Lamotrigin durch Absenken des Lamotriginspiegels auf die Hälfte.

 

 

AE und kindliche Fehlbildungen

 

Basisfehlbildungrate in der unbelastete  Normalbevölkerung: ca 2% (alle, auch geringfügige Fehlbildungen zusammengenommen).

Das einzige AE, bei dem man aufgrund sauberer Untersuchungen inzwischen relativ sicher ist, dass es die Fehlbildungrate nicht erhöht, ist Lamotrigin (zumindest in Dosierungen bis 400 mg)

Für alle anderen ist die Datenlage nicht ausreichend und insgesamt ziemlich widersprüchlich. Generell gilt, dass das Fehlbildungsrisiko wächst mit der Zahl der AE, die gleichzeitig eingenommen werden (ca Verdoppelung bei 2, Verdreifachung bei 3 AE), mit dem Blutspiegel und mit dem Vorkommen von starken Blutspiegelspitzen im Tagesverlauf.

 

Konsequenzen:

·         Wahl einer möglichst niedrigen Dosis.

·         Umstellung auf ein retardiertes AE und Vermehrung der Zahl der Einnahmezeitpunkte.

·         Umstellung auf eine Monotherapie noch vor Eintreten der Schwangerschaft.

·         Möglichst Umstellung auf Lamotrigin, Ersteinstellung bei jungen Frauen möglichst mit Lamotrigin.

 

Entscheidend sind die ersten Wochen (!!!) und Monate der Schwangerschaft. Ab dem 2.Drittel besteht kein Fehlbildungsrisiko mehr.

 

Sonderfall Valproinat:   Dieses AE erhöht das Risiko für die Spina bifida um das 10 -  bis 20 - fache.

Gegenmaßnahmen: siehe oben, ausserdem Gabe von Folsäure bereits vor Eintritt der Schwangerschaft (Wirksamkeit nicht erwiesen!)

Es gibt ausserdem Hinweise darauf, dass die Kinder aus Schwangerschaften unter Valproinat sich in ihren geistigen Fähigkeiten weniger gut entwickeln.

 

Ist eine Schwangerschaft ungeplant eingetreten, auf keinen Fall die AE aus Panik ganz weglassen (Statusgefahr mit enormem Risiko für das ungeborenen Kind).

 

Epilepsie und Schwangerschaft

Der Schwangerschaftsverlauf ist im allgemeinen normal, die Entbindung kann meist auf normalem Wege erfolgen (allerdings sicherheitshalber in der Klinik !!).

Stillen ist meist möglich und wird sogar empfohlen, um Entzugserscheinungen beim Kind zu vermeiden.

 

 

 

 

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